Hannover, Mittwochnachmittag. Eine helle, geschäftige Großstadt. Am Bahnhof herrscht kurz nach 17 Uhr Hektik, es ist Stoßzeit und die Menschen sind ungeduldig. Ein kalter Wind weht. Ein paar Besorgungen, schnell nach Hause. Die Züge sind voll, wir steigen aus. Wissen sie es schon? "Hiermit erkläre ich, dass ich mit sofortiger Wirkung...". Das hat Bischöfin Margot Käßmann vor einer guten Stunde gesagt, in der EKD-Zentrale bei den Herrnhäuser Gärten, nur drei oder vier Kilometer von hier entfernt.
Der Taxifahrer, der uns nun dorthin bringt, ist im Bilde. Die Bischöfin wirft hin. Vier Tage zuvor ist sie betrunken über eine rote Ampel gefahren. Gestern, berichtet unser Fahrer, hat er eine Freundin getroffen. "Sie hält Käßmann für eine Heilige. Nun ist sie am Boden zerstört." Auch er selbst findet den Amtsverzicht übertrieben, kann sich jedoch ein wenig Ironie nicht verkneifen: "Früher oder später landen die Leute ohne Führerschein alle bei uns im Taxi."
Die Medienschlacht ist geschlagen
Als das Fahrzeug vor der Zentrale des deutschen Protestantismus hält, ist die Medienschlacht schon geschlagen. Margot Käßmann ist vor die Presse getreten, hat eine bewegende Erklärung abgegeben. Fragen der Journalisten waren nicht zugelassen, nach einer Viertelstunde war es vorbei. Nun stehen vor dem "evangelisch.de"-Werbeschild (Bild rechts), das man zurzeit in vielen Nachrichtensendungen sehen kann, nur noch ein paar Fotografen herum, RTL-Reporter Kai Räuker bereitet sich auf eine Liveschalte vor.
Drinnen ringt die stellvertretende EKD-Sprecherin Silke Römhild mit der Fassung. Ihr Lächeln ist voller Trauer. Sie erzählt ein paar Dinge, nimmt dankbar einen Tipp entgegen. Handshake, alles Gute. Das große Foyer des Kirchenamtes ist menschenleer, die Stimme hallt, als wir Johannes Neukirch anrufen, den Sprecher der hannoverschen Landeskirche. "Ich bin traurig", sagt er nur. Die Frage, ob es einen Ort geben werde, wo die evangelischen Christen Hannovers ihre Betroffenheit ausdrücken können, verneint er.
Pragmatisch, ein schönes Wort
Die Straßenbahn zurück in die Stadt ist mäßig gefüllt, die Menschen wirken abgespannt. Es ist fast schon dunkel geworden. Wissen sie es schon? Und wenn ja, was halten sie von dem "respektablen Schritt" Käßmanns, wie es an diesem Tag so oft heißt? Die Mehrzahl der Bewohner Hannovers ist zwar evangelisch, doch so gläubig wie in Bayern sind sie nicht, hatte der Taxifahrer gesagt. "Sie sind eher pragmatisch." Ein schönes Wort. Viele werden wohl erst aus den Abendnachrichten erfahren, dass sie ohne Bischöfin sind.
Von Kröpcke, im Untergrund eine als Straßenbahnstation getarnte Riesenbaustelle, sind es nur ein paar Schritte bis zur Marktkirche im Herzen Hannovers. Das Gotteshaus ist normalerweise nur bis 18 Uhr geöffnet. Heute aber ist nichts normal in der Bischofskirche Margot Käßmanns. Das NDR-Fernsehen berichtet live, Reporter Christoph Hamann blättert im Gästebuch der Kirche. "Ein trauriger Tag für Deutschland", steht dort. "Sie fehlt uns jetzt schon." An anderer Stelle ist treffend von einer "Kurzschlusshandlung mit Langzeitfolgen" die Rede.
Niemand wagt, sie anzusprechen
Neben Medienleuten sind nur einige Neugierige in der Kirche. Wenige Gläubige. Eine grauhaarige Frau sitzt versunken neben einem Kerzenleuchter und einer Bronzefigur von Ernst Barlach. Niemand wagt, sie anzusprechen. Vorne steht ein Plakat, das die Diakone und Pastoren der Marktkirche aufgestellt haben: "Wir brauchen Sie, Frau Käßmann!" Das Schild wurde vor dem Rücktritt geschrieben. Jetzt hat jemand ein paar Kerzen hinzugestellt.
Die Kanzel der Marktkirche (Bild links), von der Margot Käßmann so oft predigte, ist verwaist. "Ich finde das nicht gut", sagt Andreas Wegner, der am Eingang des Gotteshauses steht, zum Rückzug der Bischöfin. Er verkauft die örtliche Straßenzeitung "Asphalt", hat die 51-Jährige auch persönlich erlebt. Der Abschied von ihr wird ihr schwerfallen. Sie hat viel ausgehalten, die Scheidung, die Krankheit. "Ich dachte, sie ist stark genug", so der 48-Jährige. Er sieht den NDR-Leuten zu, wie sie ihre Kameras zusammenpacken und die Kabel einrollen.
Ein übereilter Schritt?
Küster Helmut Blume hat vorhin vor den Kirchentoren noch eine Zigarette geraucht. Im Pullover. Doch dessen Farbigkeit entspricht nicht der Stimmung des 59-Jährigen. "Schlimm", sagt er nur. "Es ist unwahrscheinlich schade." Erst schien es so, als gehe Käßmann nur als EKD-Chefin. Aber auch als Bischöfin in Hannover? "Wenn das mal nicht übereilt war." Die ominöse Autofahrt der Geistlichen findet Blume verzeihlich: "Jeder Mensch macht Fehler."
"Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand", hatte Margot Käßmann in ihrer Erklärung vom Nachmittag gesagt. Abends, im tristen Hotelzimmer, hören wir die Worte noch einmal im Fernsehen. Sie setzten sich eigentümlich fest. Die gefallene Bischöfin ist natürlich Thema in allen Nachrichtensendungen. "Ich hätte mir gewünscht, sie hätte weitermachen wollen", sagt ihr Schleswiger Amtsbruder Gerhard Ulrich. Fernsehpastor Jan Dieckmann, ein enger Vertrauter Käßmanns, äußert tiefe Betroffenheit, aber auch Verständnis.
Es ist niemand gestorben
Der Himmel ist schwarz geworden in Hannover. Es ist niemand gestorben. Doch es ist, bei aller Verhaltenheit, ein unendlich großer Verlust. Der in seinem ganzen Ausmaß an diesem Tag vielleicht noch gar nicht richtig spürbar ist. Margot Käßmann stand nur 120 Tage an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland. Aber elf Jahre war sie Bischöfin ihrer Landeskirche. Nun wird sie wieder einfache Pfarrerin. Was bleibt? Wir werden noch einmal hinausgehen, in die Nacht von Hannover. Mit Fragen, die nicht gleich eine Antwort brauchen.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de mit Zuständigkeit für die Ressorts Religion und Umwelt.