Wie es sich ohne Geld lebt: Portrait einer Aussteigerin

Wie es sich ohne Geld lebt: Portrait einer Aussteigerin
Sie kündigte ihre Wohnung und ihre Versicherungen, gab ihren Beruf auf und verschenkte fast ihren ganzen Besitz, um ein neues Leben zu beginnen – ein Leben ohne Geld. Die Geschichte von Heidemarie Schwermer.
09.12.2009
Von Maike Freund

Keine Minute kann sie stillhalten. Als stünde sie unter Strom, als hätte sie nicht genug Zeit, als müsste sie unbedingt noch eine lange Liste abarbeiten, bevor es zu spät ist. Sie ist ein Energiebündel. Ihre Hände sind ständig in Bewegung, ihre Augen auch. Wenn sie erzählt, dann erzählt ihr ganzer Körper mit: Er wippt und schwingt. Sie wirkt nicht fahrig, nicht zappelig, sondern voller Tatkraft. Man könnte auch sagen, dass sie ungeduldig ist. Sie selbst sieht es so nicht. Für sie ist das Verharren auf einem Punkt schwierig - denn es gibt noch so viel zu tun. Ein neuer Vortrag, ein Film, ein Interview. Aber vor allem treibt sie der Gedanke um, wie sie ihre Idee weiter in die Welt tragen kann – ein Leben ohne Geld.

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Vor 13 Jahren stieg Heidemarie Schwermer aus dem System aus. Um ein neues Leben zu beginnen – ohne Geld, ohne Sicherheit, ohne doppelten Boden. Sie gab ihren Beruf als Lehrerin und Psychotherapeutin auf, kündigte ihre Wohnung und die Versicherungen, verschenkte fast alle ihre Sachen. Einen konkreten Anlass, ein Aha-Erlebnis gab es nicht. Dafür aber einen Grund: "In unserer Gesellschaft hat sich das Geld verselbstständigt, es hat Zwangscharakter bekommen, und jeder denkt, dass es zum Menschsein dazu gehört. Aber das stimmt nicht," sagt sie. "Wir arbeiten und bekommen Geld dafür, dass wir für Dinge ausgeben, die wir gar nicht brauchen." Aus diesem Kreislauf wollte sie ausbrechen.

In der Gesellschaft zählt die Abrechnung

Anfangs versuchte es die heute 67-Jährige über den Gib-und-Nimm-Tauschring. Im Sinne von Nachbarschaftshilfe wurde dort kostenlos gekocht. Die Lebensmittel stellte ein Laden zur Verfügung. Bezahlt wurden sie nicht mit Geld, sondern mit kleinen Arbeiten wie Fegen, Aufräumen oder Unkraut jäten. Dort bot sie ihre Berufskenntnisse gegen Essen und Kleider an. Aber Schwermer merkte schnell, dass auch das nur ein Ersatz für Geld war. "In dieser Gesellschaft zählt die Abrechnerei. Wenn wir etwas verändern wollen, dann muss das Abrechnen aufhören", erklärt sie. Sie suchte nach einer anderen Lösung als dem bekannten Muster Gibst-du-mir-geb-ich-dir, um ohne Geld auszukommen und versuchte sich im Nehmen: "Als Nehmender bist du abhängig, und das wird in unserer Gesellschaft als schlecht propagiert." Doch eine Möglichkeit, sich zu revanchieren, gebe es aber immer.

Sie will etwas verändern, in ihrem Leben und in dieser Gesellschaft. "Ich will die Diskrepanz zwischen Arm und Reich abschaffen." Schwermer will sich gegen eine Welt zur Wehr setzt, in der nur das Geld zählt. Also hält sie Vorträge über ihr Leben ohne Geld: Sie spricht in Gemeindesälen und in Vereinen und tritt in Talk-Shows auf. Gerade jetzt, in Zeiten der Wirtschaftskrise, sind die Menschen neugierig, wie es eine schafft, auf Geld zu verzichten - und das auch noch freiwillig. Gegen den Begriff der Ideologie,der ihr immer wieder an den Kopf geworfen wird, wehrt sie sich: "Ich bin keine esoterische Missionarin. Ich verlange von niemandem, es genauso zu machen wie ich. Jeder muss seinen eigenen Weg finden und gehen." Für ihre Vorträge lässt sie sich nicht bezahlen. Statt dessen bekommt sie die Bahnfahrkarte zum Vortagsort und manchmal eine Prepaid-Karte fürs Handy - eines ihrer wenigen Besitztümer.

Aus Experiment wurde ein Lebensmodell

Meistens wohnt sie bei ihren Freunden, manchmal für Tage, meistens für zwei, drei Wochen. Ab und zu hütet sie Häuser, wenn die Bewohner im Urlaub sind, so wie jetzt über Weihnachten in Dortmund. Sie zieht weiter, wenn der Termin für einen Vortrag in einer neuen Stadt näher rückt. Sie sagt: "Ich bin überall Zuhause, das trage ich in meinem Inneren."

Aus dem ursprünglichen Leben-ohne-Geld-Experiment ist für sie längst ein Modell geworden, ein Lebensentwurf. Aufstehen, E-Mails checken, mit Freunden treffen, Vorträge vorbereiten – ein ganz normaler Tag im Leben von Heidemarie Schwermer: "Jeder Tag ist trotzdem anders, ein Abenteuer. Und das macht Spaß." Auch ohne Geld. Aber da gibt es auch noch die andere Seite - die der Angst. Angst vor Krankheiten, vor dem Alleinsein, vor dem Tod: "Wenn ich gar nicht weiß, was passiert, dann kommt die Angst vor dem Unbekannten." Von diesen Erlebnissen gab es einige. Ein Beispiel: Mehrere Monate wohnte sie in einer Stadt, in der sie niemanden kannte. Sie hatte nichts mehr zu essen, kein Telefon, kein Bahnticket, um zu reisen.

Sie bekam Todesängste: "Als Kind habe ich nach dem Krieg gehungert, jetzt musste ich wieder hungern. Da hab ich mir gesagt: Dann sterbe ich eben. Das war natürlich Quatsch. Ich war in Herne, 15 Kilometer von Dortmund entfernt. Ich hätte meine Freunde erreichen können. Aber das wollte ich nicht. Ich habe versucht, loszulassen. Und als ich soweit war, passierten die Wunder." Das Wunder von Schwermer stand in der Gestalt von Freunden vor ihr, die ihr Lebensmittel brachten, ohne dass sie von ihrer konkreten Situation wussten. Kleine Wunder wie diese würden jedem Menschen begegnen, sagt sie. "Die meisten nehmen sie aber gar nicht wahr." Früher sei es ihr auch so gegangen. Erst mit der Zeit habe sie gelernt, auf solche Besonderheiten zu achten.

Schwermer will keine Schnorrerin sein

Schwermer vermisst keine materiellen Dinge, keine Annehmlichkeiten in ihrem Leben. Im Licht blitzen die Perlen ihrer Halskette auf. Sie lacht, als sie den Blick zu dem Schmuckstück bemerkt: "Die Kette ist ein Geschenk – die habe ich nicht gekauft. Was ja ohne Geld sowieso nicht ginge." Sie hat gelernt, zu verzichten, obwohl sie es meist gar nicht braucht. Denn was sie zum Leben benötige, dass bekäme sie schon immer irgendwie. Irgendwie? "Vor ein paar Tagen brauchte ich dringend Zahnpasta. Und meine Freundin brachte zufällig welche mit, weil sie sie übrig hatte." Mittlerweile bekommt sie eine Rente, aber sie verschenkt das Geld an Menschen, die es nötiger brauchen als sie.

"Als Schnorrerin wollte ich nie da stehen", sagt Schwermer. Sie redet viel, ohne aus dem Takt zu kommen, ohne Erklärungsnot; ohne Scham; ihre Worte fügen sich leicht aneinander. Früher, wenn auf einem ihrer Vorträge dieser Vorwurf des Schnorrens kam – und er kam immer - dann war sie wütend, traurig, verletzt. Heute geht sie damit gelassener um. Sie nimmt den Vorwurf an und diskutiert ihn. Sie hat ihren Weg gefunden.


Maike Freund arbeitet als freie Journalistin und studiert in Dortmund Journalistik.