Hunger in Deutschland? Das ist ein Thema, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Eigentlich. Sicher, die Zahl der in Armut lebenden Menschen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen – und das Leben in Zeiten von Hartz IV ist längst zum öffentlichen Thema geworden. Die Medien berichten ausführlich, die Gesellschaft scheint sensibler geworden zu sein. 850 sogenannte Tafeln gibt es inzwischen in der Bundesrepublik, sie versorgen Bedürftige täglich mit Lebensmitteln. Auch die Schlangen in den Suppenküchen der Wohlfahrtsverbände werden länger.
Aber Hunger, der nackte Mangel an Nahrung? Ein Skandal in einem Land, das zu den reichsten Industriestaaten der Welt zählt – in einem Land, dessen Zeitschriften ständig neue Diäten oder Fastenkuren anpreisen, das es schick findet, "Hungermodels" zu gesellschaftlichen Vorbildern zu stilisieren und wo in den Supermärkten bereits im September die Weihnachtsplätzchen liegen. Währenddessen wühlen draußen auf den Straßen immer mehr Menschen in Abfallkörben. Der Hunger ist sichtbar geworden – nicht nur in den Großstädten, sondern im ganzen Land.
Verzweiflung am Freitagnachmittag
"Eigentlich dürfte niemand in Deutschland Hunger leiden", sagt Ute Burbach-Tasso, Sprecherin des evangelischen Diakonischen Werks. "Aber wir wissen genau, dass viele Menschen, die von Hartz IV leben, nicht mit dem Geld auskommen." Schon ab der Monatsmitte, wissen Fachleute, fangen die ersten an, sich von Cornflakes zu ernähren. Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafeln, berichtet von alleinerziehenden Müttern, die am Freitagnachmittag, wenn die Behörden geschlossen haben, verzweifelt auf Nahrungssuche fürs Wochenende sind.
Und was ist mit jenen, die gar keine behördliche Unterstützung bekommen, weil sie die Antragsflut nicht bewältigen oder illegal im Land leben? "Ihre Anzahl ist mit Sicherheit gestiegen", weiß Häuser. Immer mehr Menschen haben zudem Probleme, ein Formular auszufüllen – und sehr viele lösen ihre Ansprüche schlicht nicht ein. Gerade ältere Menschen schämen sich und verstecken ihre Not. "Es ist kein nackter Hunger, aber sie ernähren sich weit unter dem nötigen Wert", so Häuser. "Oft geben sie eher noch den Kindern und den Enkeln etwas, und sie selbst hungern."
"Das wird nirgends erfasst"
Wie viele Menschen in Deutschland zu wenig zu Essen haben, ist nicht bekannt. "Das wird nirgends erfasst", sagt Tafel-Chef Häuser. Auch der Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung, der erstmals 2001 erschien, schweigt sich über das Thema Hunger weitgehend aus. In den USA ist das anders: Pünktlich zum Start der Welternährungskonferenz Anfang der Woche in Rom – die im Übrigen ohne greifbare Ergebnisse blieb – wurde bekannt, dass in den USA während der schweren Wirtschaftskrise 50 Millionen Menschen von "Nahrungsmittelknappheit" betroffen waren.
Hunger ist also ein Phänomen, das mittlerweile längst über die Entwicklungsländer hinausreicht, auch wenn das Ausmaß dort wesentlich größter ist. Weltweit haben mehr als eine Milliarde Menschen zu wenig zu essen. Der aktuelle Welthunger-Index zeigt, dass Südasien sowie vor allem Afrika südlich der Sahara am meisten betroffen sind. In 29 Staaten, darunter Äthiopien, Sierra Leone, ist der Zustand alarmierend. Meistens verschärfen Kriege und bewaffnete Konflikte die Situation. Jeden Tag verhungern auf der Erde 35.000 Menschen, unter ihnen 10.000 Kinder.
Mehr Beratungsstellen schaffen
Angesichts dieser erschreckenden Tatsachen fällt es schwer, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auch in Menschen zahllose Menschen unter- und mangelernährt sind - zumal auch immer mehr Kinder davon betroffen sind. Doch Gerd Häuser und andere beobachten eine gesellschaftliche Veränderung, die Not im eigenen Land liegt nicht mehr ganz so fern. Aus Sicht des Tafel-Chefs wäre es wichtig, mehr Anlauf- und Beratungsstellen für Betroffene zu schaffen und diese bekannter zu machen. Es gehe darum zu zeigen, dass Armut keine Schande ist – und der Staat müsste nach Überzeugung Häusers mehr Forschung zum Thema fördern.
Und was können jene tun, denen es gut geht in Deutschland? Nicht immer ist der Euro für die Menschen, die in Mülltonnen wühlen, der richtige Weg, weiß Häuser. "Sie fühlen sich davon oft beleidigt, weil es um ihre Würde geht." Respekt vor Armut ist der Anfang von Hilfe. Bei den Tafeln, in denen nicht selten schon "Überlebenspakete" für extrem Bedürftige geschnürt werden, arbeiten inzwischen mehr als 40.000 Freiwillige. Sie und viele andere verschließen nicht die Augen vor einem Thema, das es in Deutschland eigentlich gar nicht geben dürfte.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de für die Ressorts Religion und Umwelt.