Am frühen Morgen des 15. Juni 2000 war das Eis gebrochen. Im Kanzleramt des damaligen Regierungschefs der rot-grünen Koalition, Gerhard Schröder (SPD), wurde nach langem Tauziehen endlich die Vereinbarung zum Ausstieg aus der Atomwirtschaft unterzeichnet. Mit dabei Jürgen Trittin, zu der Zeit Umweltminister der Grünen, und die Chefs der Energiekonzerne. Ohne sie wäre ein solcher Ausstieg nicht möglich gewesen. Auch nachher noch bemühte sich die Regierung, etwaige Schadensersatzansprüche wegen des vorzeitigen Entzugs der Betriebsgenehmigung für die Atommeiler wasserdicht fernzuhalten. Bis zum endgültigen Atomkonsens vergingen dann noch etliche Monate, so dass das Ausstiegsgesetz erst 2002 unter Dach und Fach war.
Jetzt - gut neun Jahre später - wird das Rad wieder zurückgedreht. Das Abschalten dieser für viele wegen des ungewissen Risikos oder - wie zuletzt bei der Anlage in Krümmel - auch konkreter Pannen unheimlichen Anlagen wird hinausgeschoben. Auch diesmal sind etliche Rechtsfragen zu klären. So geht es eher um Forderungen Dritter - nämlich der Branche der mittelständischen Erzeuger von Wind- und Sonnenstrom. Diese könnten sich auf die offiziellen Ausbauziele für erneuerbare Energien von 30 bis 40 Prozent Ökostrom bis zum Jahr 2020 berufen - und Schadensersatz prüfen. Immerhin bekommen die "Big 4" Eon, RWE, Vattenfall und EnBW durch den Weiterbetrieb ihrer bisher längstens bis 2022 laufenden Anlagen einen fetten Zusatzprofit - zwar abhängig von der Strombörse, aber letztlich staatlich garantiert. Der schwankt je nach Rechnung derzeit zwischen etwa 25-30 Milliarden und gigantischen 200 Milliarden Euro.
Hilfe für Mittelständler
Späte Hilfe an dieser Stelle bekommen die vielen mittelständischen Windmüller oder Sonnenenergie-Produzenten vom obersten Wettbewerbshüter. Am Stromerzeugungsmarkt herrsche ohnehin schon kein Wettbewerb. Da bewirkten Laufzeitverlängerungen sogar "das Gegenteil", sagte Bernhard Heitzer dem "Handelsblatt" (Montag). "Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird die hohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten zementiert." Inklusive Kohleverstromung stehen die vier Konzerne für 86 Prozent der Stromerzeugung. Den unabhängigen Energieerzeugern würde so "der Boden unter den Füßen weggezogen".
Denen schwillt bereits der Kamm. "Der gesetzlich vereinbarte Atomausstieg war genau wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine wesentliche Grundlage für wegweisende unternehmerische Entscheidungen der letzten Jahre", so der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE). "Wenn diese gesetzliche Grundlage jetzt gekippt wird, untergräbt das den Vertrauensschutz für Unternehmen, die Milliarden in Erneuerbare Energien investiert haben", klagt Dietmar Schütz.
"Diese Investitionen wurden unter der Voraussetzung getätigt, dass durch den Atomausstieg der Bedarf an Strom aus alternativen Quellen steigt", so Schütz. "Fällt nun umgekehrt der Atomausstieg aus, verstopfen die Großkraftwerke die Netze und bremsen den Ausbau der Erneuerbaren Energien." Schütz legt noch einen drauf: "Es ist schon erstaunlich, dass eine Regierungskoalition, die sich die Förderung des Mittelstandes auf die Fahnen geschrieben hat, mit der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke jetzt ausgerechnet monopolartige Großstrukturen im Energiesektor stärken will."
Korrekturen im Solarbereich
Im Gespräch sind außerdem Förder-Einschränkungen bei erneuerbaren Energien - vor allem Korrekturen im Solarbereich, der bald ohne Subventionen auskommen will und soll. Kontraproduktiv wäre es, wenn der mittelständischen Energie-Zukunftsbranche auch noch der Vorrang bei der Stromeinspeisung ins Netz genommen würde, dem ein Gutteil des Ökostrom-Booms mit 15 Prozent Stromanteil zu verdanken ist.
Diese Wechselwirkung von Atomstrom- und Ökostrom-Produktion hatte der bisherige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) gemeint, als er sagte: "Beides passt nicht zusammen." Eine Verlängerung der Restlaufzeiten verzögere Investitionen und Innovationen. Damit stellt sich die Frage, ob eine ergebnisoffene Überprüfung der Energieträger - dazu gehören auch Kohle und Erdgas - nicht doch ein Festhalten am Atomausstieg sinnvoll erscheinen lassen. Viel Stoff für die Diskussionen der Umweltfachleute der geplanten schwarz-gelben Koalition am Dienstag in Berlin.