Vor fünf Jahren begannen die ersten coronabedingten Schulschließungen. Für Kinder und Jugendliche war es der Anfang einer langen Zeit mit Online-Unterricht und Social-Distancing-Maßnahmen, über Wochen abgeschnitten vom Freundeskreis und anderen physischen Sozialkontakten.
epd: Es war ein Freitag, der 13., als die Schulen in Deutschland zum letzten Mal vor dem ersten Corona-Lockdown in Präsenz unterrichtet haben. Ein Unglückstag für viele Kinder und Jugendliche?
Sabine Andresen: Man kann wirklich sagen, dass diese so nie dagewesene Situation, dass plötzlich alle Schulen geschlossen sind, sich für einen Teil der Kinder und Jugendlichen als ein Unglückstag erwiesen hat, aufgrund der erheblichen Konsequenzen und auch, weil es sich eben sehr lange hingezogen hat. Corona ist für viele Kinder und Jugendliche noch nicht wirklich vorbei. Nach wie vor haben sie mit den Konsequenzen aus der Pandemie zu leben, etwa bei Bildungsmöglichkeiten und Lernrückständen. Ich frage mich: Haben wir viele Jugendliche so enttäuscht, dass wir sie verloren haben? Bei Jugendlichen ist das Vertrauen dahin, dass ihre Interessen, ihre Rechte, auch ihre Gesundheit, ihre mentale Gesundheit tatsächlich von den politisch Verantwortlichen genügend gesehen werden.
Sie waren als Forscherin an Langzeitstudien über die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, KiCo und JuCo, führend beteiligt. Welche Erfahrungen haben die Befragten gemacht?
Andresen: Das ist so eine grundsätzliche Erfahrung, die die Jugendlichen uns gegenüber artikuliert haben: "Wir werden nicht gesehen, wir werden nicht gehört. Unsere Interessen, Rechte, unsere Bedürfnisse werden bei den schwierigen Entscheidungen nachrangig behandelt." Es gab unter den Jugendlichen in den JuCo-Studien durchgängig ein großes Verständnis für die Notwendigkeit von Corona-Maßnahmen, aber eben auch das Gefühl, mit den daraus resultierenden Belastungen alleine gelassen worden zu sein. Und das, finde ich, hat sich noch mal für mich so fortgesetzt in der Debatte darüber, ob die Corona-Pandemie aufgearbeitet wird.
"Mir hat gefehlt das ganz klare Bekenntnis: Wenn wir aufarbeiten, dann zusammen mit jungen Menschen"
Mir hat gefehlt das ganz klare Bekenntnis: Wenn wir aufarbeiten, dann zusammen mit jungen Menschen, dann bekommen die einen ganz aktiven Part, weil nach allem, was wir wissen - und das geben ja mittlerweile auch die meisten Politikerinnen und Politiker zu -, sie wirklich Erhebliches in Kauf nehmen mussten.
Wie bewerten Sie denn Aufholprogramme nach Ende der Pandemie, die es in den Bundesländern gab?
Andresen: Diese Programme folgten der Einsicht: "Wir müssen hier etwas tun." Insofern sehe ich sie erstmal als wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Was schwierig ist, was uns auch die Jugendlichen gesagt haben, dass sehr viel Mentales zu bewältigen ist, also die psychischen Belastungen gesehen werden müssen. Hier geht es um das Gefühl von Einsamkeit, von Ohnmacht, die Erfahrung, von einem Tag auf den anderen irgendwie völlig aus dem regulären Alltag herausgeworfen zu sein und gar nicht zu wissen: Was wird mir genommen? Wie kann ich meine Zukunft gestalten? Auch für junge Menschen sind Zukunftspläne nun mal einfach wichtig! Das ist für das menschliche Dasein und insbesondere in der Jugendphase ganz zentral.
Viele Jugendliche haben außerdem gesagt, dass auch die Lehrkräfte viel Stress hätten, Stoff aufzuholen und da hat sich der Druck in Schulen noch mal erheblich erhöht. Das hat bei einem Teil der Jugend dazu geführt, dass mentale Genesung gar nicht stattfinden konnte. Hierfür finden Betroffene noch nicht die passende Unterstützung und Versorgung. Das ist ein Problem. Ich will aber auch auf positive Maßnahmen hinweisen: Schon 2020 wurde vom Bundesfamilienministerium initiiert, dass die Anrufzeiten der "Nummer gegen Kummer" für Eltern, Kinder und Jugendliche erhöht wurden.
Es bräuchte Sozialarbeit oder für die, die wirklich psychisch krank geworden sind, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Aber wird es nicht immer schwieriger, je länger die Pandemie zurückliegt, überhaupt noch irgendwas zu tun für Kinder und Jugendliche oder mittlerweile junge Erwachsene, die die Pandemie als Jugendliche mitgemacht haben?
Andresen: Es ist jetzt nicht so, dass wir eine Generation von erkrankten jungen Menschen haben. Also, junge Menschen können auch sehr stark und resilient sein, selbst unter schwierigen Bedingungen. Wichtig ist, genauer zu bestimmen, welche Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen benötigen jetzt eigentlich welche Unterstützung.
Wer ist besonders belastet?
Andresen: Dazu gehören junge Menschen, die schon vor der Pandemie mit Geldmangel klarkommen mussten, also in Armutslagen sind. Sie sind im Zuge der Corona-Maßnahmen auch stärker psychisch belastet worden, das haben unsere JuCo-Studien gezeigt. Zum Zeitpunkt unserer Befragungen in 2021 und 2022 berichten Jugendliche mit wenig Geld signifikant häufiger von dem Gefühl, Verluste nicht aufzuholen zu können, einsam zu sein. Und sie sind diejenigen, denen Räume einfach zum Jugendlichsein fehlen. Wir haben hier eine Kontinuität von Belastungsfaktoren, die das Leben von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen - vor der Pandemie, wirklich massiv verschärft während der Pandemie und nach der Pandemie auch noch nicht tatsächlich behoben.
Haben ihre Forschungen noch weitere besonders Betroffene ausgemacht?
Andrese: Es gibt noch eine zweite Gruppe: Wie geht es den Kindern und Jugendlichen, die Gewalt erlebt haben in der Familie? Wie gut sind die versorgt heute? An Psychotherapeuten haben wir einen wirklich eklatanten Mangel. Für betroffene Jungen zum Beispiel oder für Kinder in ländlichen Regionen fehlt es an spezialisierter Beratung. Das Problem ist erkannt, aber das lässt sich nicht so schnell lösen. Wir dürfen nicht nachlassen und müssen nach Lösungen suchen, damit Gewaltbetroffene und ihre unterstützenden Angehörigen nicht alleine bleiben. Eine weitere wichtige Ressource ist Schulsozialarbeit, hier bekommen Schülerinnen und Schüler niedrigschwellig Unterstützung. Doch alles, was sogenannte freiwillige Leistungen sind, ein Jugendzentrum zu unterhalten zum Beispiel, steht ja bei Kommunen, die einfach überhaupt kein Geld haben, auf der Kippe.
Was halten Sie vor diesem Hintergrund von politischen Forderungen nach einem Pflichtdienst für junge Erwachsene, damit sie der Gesellschaft etwas zurückgeben?
Andresen: Ich glaube, eine demokratische Gesellschaft kann einen solchen Vorschlag diskutieren, aber mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen. Und die Diskussion muss ergebnisoffen sein. Ich persönlich fand den Duktus problematisch, mit dem das vorgetragen wurde, als ob der Egoismus der Gesellschaft aus einem fehlenden Gemeinschaftsbewusstsein der jungen Menschen resultieren würde. Hier wird die hohe Solidarität der jungen Generation gerade mit der älteren Generation verkannt. Junge Menschen, das zeigen unsere Studien, wollten ihre Großeltern und andere schützen und waren auch bereit, Opfer zu bringen. Vor diesem Hintergrund einen unausgegorenen Vorschlag für ein Pflichtjahr vorzubringen, finde ich schwierig.