Wallmann bezieht sich dabei insbesondere auf die der EKD-Reformationsbotschafterin Margot Käßmann zugeschriebene Auffassung, die evangelische Kirche habe erst nach 1945 ihren Antijudaismus überwunden. "Die Ansicht, dass die evangelische Kirche bis 1945 unter dem Einfluss der antijudaistischen Spätschriften Luthers stand, ist weit verbreitet. Doch sie ist fragwürdig", schreibt der emeritierte Bochumer Professor in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Donnerstagsausgabe) anlässlich des Reformationstages.
###mehr-artikel###
Wallmann schreibt, nationalsozialistische Historiker hätten der evangelischen Kirche um 1933 vorgeworfen, sie habe Luthers antijüdische Schriften unterschlagen. Auch Dietrich Bonhoeffer habe diese nicht gekannt. "Damit stand er in der Tradition einer in der evangelischen Kirche seit Jahrhunderten vollzogenen Abwendung von den antijüdischen Spätschriften Luthers", schreibt Wallmann.
Herbeigeführt habe diesen Wandel die nach dem Dreißigjährigen Krieg entstandene Erneuerungsbewegung des Pietismus, argumentiert der Wissenschaftler. "Seitdem setzte sich in der evangelischen Christenheit die Überzeugung durch, dass für die Haltung zu den Juden Luthers judenfreundliche Schrift von 1523 maßgebend sei und seine Spätschriften ignoriert werden müssten." Die pietistische Theologische Fakultät in Halle habe im 18. Jahrhundert in zahlreichen Gutachten für die Tolerierung und das Gottesdienstrecht der Juden votiert und sei von jüdischen Gemeinden als Fürsprecherin angerufen worden.
"Im 19. Jahrhundert feiern Juden Luther als Bahnbrecher der Toleranz", schreibt Wallmann. Er kritisiert: "Die evangelische Kirche scheint ihre eigene Geschichte zu verleugnen, und die EKD ist drauf und dran, dem erinnerungspolitischen Programm der Nationalsozialisten zu einem späten Sieg zu verhelfen."