Auf dem Schild eines alten Londoner Hauses mit Stufen vor dem Eingang steht "bitte klingeln, wenn Sie Assistenz benötigen". Daneben sind eine kleine Klingel und ein Rollstuhlsymbol angebracht. Wenn ein Rollstuhlfahrer klingelt, kommt jemand und legt eine mobile Rampe über die Treppenstufen. Maßnahmen wie diese, die behinderten Menschen den Zugang und damit die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen, gibt es in Großbritannien viele. Gesetze verpflichten öffentliche und private Einrichtungen, behinderten Menschen den vollen Zugang zu ihren Angeboten zu ermöglichen.
"Als ich vor 20 Jahren aus Italien nach Großbritannien kam, habe ich mich dafür geschämt, gehörlos zu sein", sagt Maria Zedda, Geschäftsführerin der Firma Wideaware, die Firmen in Sachen Barrierefreiheit berät. "Aber die angenehme zurückhaltende Art der Briten hat es mir sehr leicht gemacht, meine Behinderung anders zu sehen." Die britische Gesellschaft habe eine besondere Kultur im Umgang mit behinderten Menschen entwickelt, sagt Zedda. "Das hat mein ganzes Leben verändert."
Behinderte Aktivisten ketteten sich an Linienbusse
Aus Großbritannien kommt das Konzept, Behinderung nicht als individuelles Schicksal, sondern als gesellschaftliche Aufgabe anzusehen. "Soziales Modell von Behinderung" nennt das der Geschäftsführer des britischen Behindertenverbandes Scope, Richard Hawkes. "Das soziale Modell von Behinderung geht davon aus, dass Behinderung dadurch verursacht wird, wie die Gesellschaft organisiert ist und nicht dadurch welche körperlichen Einschränkungen jemand hat." Es lege den Fokus darauf, wie man die Barrieren im Leben von behinderten Menschen beseitigen kann. "Das medizinische Modell von Behinderung hingegen schaut nur darauf, was 'falsch' ist mit einer Person und nicht, was ihre Bedürfnisse sind", sagt er.
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Nach massiven Protesten und Demonstrationen, bei denen behinderte Aktivisten Straßen blockierten und sich an Linienbusse ketteten, beschloss die britische Regierung Mitte der 90er Jahre weitreichende Gesetzesänderungen. 1995 trat ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz für behinderte Menschen in Kraft, das ihnen mehr Rechte einräumte. Mit dem Gesetz wurden sowohl öffentliche als auch private Einrichtungen zur Barrierefreiheit verpflichtet.
Das Land, das Anfang der 90er Jahre kaum abgeflachte Bordsteinkanten hatte, baute plötzlich Rampen, rüstete Hunderte Jahre alte Pubs mit barrierefreien Toiletten aus, schaffte für blinde Menschen zugängliche Ampeln an und baute die Untertitelung im Fernsehen aus. Heute kann in Großbritannien jede Ampel auch von blinden Menschen genutzt werden.
"Es geht um Menschenrechte"
Die BBC untertitelt seit einiger Zeit ihr gesamtes Fernsehprogramm. Auch vor dem Bildungsbereich machte das Gesetz nicht halt: 80 Prozent aller behinderten Schüler des Landes gehen in Regelschulen. In Deutschland sind es nach Angaben des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung 20 Prozent. Außerdem macht das Gesetz eine Einrichtung, die behinderte Menschen diskriminiert, schadenersatzpflichtig. Richter verpflichten in ihren Urteilen Einrichtungen dazu, ihre Barrieren zu beseitigen, und die britischen Medien werden nicht müde, über die Fälle zu berichten.
Doch trotz der fortschrittlichen Entwicklung hofft auch Großbritannien durch die Paralympics, die an diesem Sonntag in London zu Ende gehen, die Wahrnehmung behinderter Menschen weiter zu verbessern. Denn mit den wirtschaftlichen Problemen kamen auch soziale. Die Anzahl behindertenfeindlicher Straftaten im Land steigt. Experten streiten sich, ob dies auf eine tatsächliche Zunahme der Straftaten oder durch eine höhere Anzeigebereitschaft ausgelöst ist.
Außerdem will die konservative Regierung mit aller Härte bei Leistungen für behinderte und erwerbsunfähige Menschen sparen. Viele Organisationen befürchten eine Rückkehr zum medizinischen Modell von Behinderung. Maria Zedda ist sich sicher, dass das verheerend wäre. "Die Erkenntnis, dass meine Behinderung nicht das Problem ist, hat mein Leben verändert", sagt sie. "Meine Behinderung wird niemals verschwinden, aber die Anpassungen bewirken, dass ich gleichberechtigt agieren kann. Es geht dabei letztlich um Menschenrechte."