Mit einem Blick erkennt Raymond, dass einer Kellnerin gerade 246 Zahnstocher runtergefallen sind. Weil sie ein Namensschild trägt, weiß er auch ihre Telefonnummer; er hat das Telefonbuch auswendig gelernt. Die Szene aus "Rain Man" ist über 35 Jahre alt, prägt aber bis heute das Filmbild autistischer Personen: Sie mögen etwas verschroben sein und an einfachen Alltagsaufgaben scheitern, verfügen jedoch über eine geniale Inselbegabung. Gemessen an diesem Ideal wirkt Ronny vergleichsweise unauffällig, sieht man davon ab, dass er es vermeidet, auf die Fugen zwischen den Bürgersteigplatten zu treten. Wenn sich der fünfzehnjährige Junge etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er allerdings sehr beharrlich sein, und vor diesem Hintergrund hat sich Torsten Lenkeit in seinem vierten Drehbuch für die ARD-Reihe "Einspruch, Schatz!" eine sehr interessante Geschichte ausgedacht.
Wie schon beim ersten Doppelpack mit ChrisTine Urspruch als kleinwüchsige Juristin mit großem Herzen ist der zweite neue Film deutlich gelungener. Während die dritte Episode ("Überraschungsgäste") nicht zuletzt wegen ihrer Vorhersehbarkeit recht betulich wirkte, ist "Herzenswünsche" dichter erzählt und daher deutlich fesselnder. Zu einem Klienten für Eva Schatz wird Ronny (Kasimir Pretzschner), weil sein Vater, ein bekannter Schauspieler, vorübergehend nach Leipzig zurückkehrt ist, um hier einen Film zu drehen. Der Teenager ist das Ergebnis einer flüchtigen Affäre; Curt Bach (Steffen Groth) hat sich um die Unterhaltszahlungen gedrückt, indem er in die Schweiz gezogen ist. Als Ronnys Mutter (Susanne Bormann) die Anwältin um Hilfe bittet, überrascht Eva den uneinsichtigen Star bei den Dreharbeiten mit einem Haftbefehl. Bachs Agentin (Lina Wendel) dreht den Spieß um und inszeniert für die Presse ein rührseliges Wiedersehen von Vater und Sohn; Blitzlichtgewitter und Stimmengewirr haben allerdings zur Folge, dass der Junge in Panik ausbricht.
Filmische Darstellungen von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung bemühen sich zumindest in den letzten Jahren größtenteils um einen halbwegs realistischen Ansatz. In Ronnys Fall hat sich Lenkeit an den Symptomen des Asperger-Syndroms orientiert. Dazu passt auch die fabelhafte Gedächtnisleistung: Der Junge ist Curts größter Fan und kann alle seine Filmdialoge auswendig. Als die beiden eine Szene nachspielen, die verblüffende Ähnlichkeit zu ihrer Situation hat, fehlt Ronny jedoch die Fähigkeit, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden; fortan ist er überzeugt, dass Curt ihn zu sich und mit in die Schweiz nehmen will. Ronnys Mutter erwartet ein Baby, ihr neuer Lebensgefährte (Karim Günes) möchte Ronny adoptieren, damit er sich nicht zurückgesetzt fühlt. Wie Lenkeit dieses Dilemma bei der abschließenden Gerichtsverhandlung durch ein bewegendes Plädoyer des Schauspielers auflöst, ist eine echte Überraschung.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Weil sich berufliche und private Ebenen in Filmen dieser Art gern spiegeln, geht es in Evas Beziehung zu ihrem Kollegen Hanno (Wolfram Grandezka) ebenfalls um eine Vater/Sohn-Geschichte: Neil (Edgar Emil Garde) betreibt einen offenbar sehr erfolgreichen Schmink-Channel und bekommt das Angebot, die Produkte eines Konzerns vorzustellen. Weil er erst dreizehn ist, muss sein Vater einverstanden sein. Hanno verknüpft die Zustimmung natürlich mit den schulischen Leistungen des Jungen. Ausgerechnet jetzt flattert ein "blauer Brief" ins Haus: Versetzung gefährdet. Also überredet Neil seine Oma (Tatja Seibt), Hannos Unterschrift zu fälschen, was natürlich rauskommt, und weil Eva durch Zufall zur Mitwisserin wurde, kommt es prompt zum Zerwürfnis zwischen dem Paar; dieses Muster sorgte schon in der letzten Episode für Beziehungsärger.
Es ist dennoch nicht zuletzt die Liebe zum Detail, die den insgesamt vierten Film von den anderen abhebt. Das hat neben der Handlung auch viel mit der Regie und Annette Ernsts Arbeit mit dem Ensemble zu tun. Ein besonderes Merkmal der Bildgestaltung gehört allerdings zur Handschrift der Reihe: Wenn Eva auf den Fluren des Gerichts mit dem doppelt so großen Richter Schmidt (Stephan Grossmann) spricht, nimmt die Kamera nicht etwa seinen Blickwinkel ein, sondern ihre Augenhöhe. In anderen Szenen wird die Anwältin aus einer leichten Untersicht gezeigt. In einigen Szenen mit Ronny verdeutlicht der Film den massiven "Overload", wenn allzu viele Sinnesdrücke auf den Jungen einstürmen, durch einen Wechsel in seine optische und akustische Perspektive. Sehr sympathisch sind auch die eingestreuten Zitate, etwa aus Loriots legendärem Nudel-Sketch.