"Gott habe ihm gesagt, er solle mich zur Frau machen"

Kirchenhistorikerin Ute Gause
RUB, Marquard
Kirchenhistorikerin Ute Gause bekam für ihre Einzelfallstudie freien Zugang zu allen Unterlagen in den Archiven der Landeskirche.
Einzelfallstudie zu Missbrauch
"Gott habe ihm gesagt, er solle mich zur Frau machen"
Im Auftrag einer Landeskirche untersuchte die Kirchenhistorikerin Ute Gause den Fall eines Pfarrers, der über Jahrzehnte hinweg missbräuchliche Beziehungen zu meist jüngeren Frauen unterhielt. Betroffen gewesen ist auch ein 15-jähriges Mädchen. Das Buch bewegt besonders durch die Interviews mit Betroffenen und "Mitwissenden", welche die Autorin selbst geführt hat. evangelisch.de-Redakteurin Katja Eifler spricht mit ihr über Strukturen, die körperlichen, seelischen und spirituellen Missbrauch ermöglichten und darüber, was sich daraus für die Zukunft ableiten lässt.

Unzählige Archivberichte hat Ute Gause zur Aufarbeitung des Falles analysiert und versucht, mit allen beteiligten Personen und Ämtern über den Fall von Rolf R. zu sprechen. Nicht immer gab es Antworten. Aus kirchengeschichtlicher Perspektive werden durch diese Einzelfallstudie Strukturen transparenter, die körperlichen, seelischen und auch spirituellen Missbrauch in der Evangelischen Kirche ermöglichen. 

evangelisch.de: Frau Gause, wie haben Sie reagiert, als die Landeskirche (die anonym bleiben möchte) auf Sie zukam, mit der Bitte, einen Einzelfall zu untersuchen?

Ute Gause: Erstaunt! Weil sie eine Historikerin gefragt haben, ich hätte es sonst eher in der Praktischen Theologie verortet, fand es aber aufgrund der Auswertung von Archivmaterial und weil der Fall weiter zurücklag, angemessen, und es hat mich gereizt. Zudem habe ich langjährige Erfahrungen mit Frauenforschung und Oral History. (Anmerkung der Red.: Oral History ist eine Methode der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeug:innen zu bestimmten Ereignissen befragt und von den InterviewerInnen möglichst wenig beeinflusst werden sollen.) Als konkreter Fall wurde mir der des Pfarrers Rolf R. genannt.

Sie schildern das Leben des Pfarrers von seinem Aufwachsen als vaterloses Kind über die Studienzeit, sein Vikariat und seine Arbeit in verschiedenen Gemeinden bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt aufgrund einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs. Waren Sie auf der Suche nach Motiven oder Verständnis für den Täter?

Gause: Als Historikerin bin ich verpflichtet, eine Person innerhalb ihres eigenen individuellen, kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexts zu untersuchen. Dabei ging es mir darum, eindeutige Dualismen zu vermeiden; das moralische Urteil kann jeder Leser, jede Leserin gut selbst fällen. Ich finde nicht, dass durch die Darstellung der Biographie eine Apologie entstanden ist. Natürlich stehe ich als heutiger Mensch und Frau (!) eindeutig auf der Seite der Betroffenen. 

Rolf war laut Zeugenberichten ein charismatischer Prediger und guter "Missionar". Hat es ihm das besonders leicht gemacht?

Gause: Wir kennen es ja auch aus liberalen Kontexten (Odenwaldschule), dass Charisma und die Aufgeladenheit, an etwas Besonderem teilzuhaben, zu Entgrenzung führen können. Leicht gemacht hat es ihm, dass er als religiöse Führungspersönlichkeit fraglos akzeptiert war und die Institution Kirche noch viel hierarchischer war als heute sowie die Trennung von öffentlicher Rolle/Funktion und Familie im Pfarrhaushalt aufgehoben war.

Sie haben zahlreiche Interviews mit Betroffenen und mit Menschen geführt, die von seinem Ehebruch, der Enthemmung durch den Alkoholmissbrauch und seinen Annäherungsversuchen an jüngere Frauen gewusst haben. Wie war das für Sie selbst?

Gause: Ich habe ausschließlich sympathische und überaus reflektierte Personen kennengelernt. Bei den Bystander:innen hatte ich oft das Gefühl, dass sie ihn verteidigt haben, weil sie sich sonst schuldig gefühlt hätten. Die Betroffenen haben mich beeindruckt: Sie sind mit dem Ausnützen ihrer Vulnerabilität (Anmerkung. d. Red.: Verletzbarkeit) in einem jungen Alter nachträglich fertig geworden und sind ihren Weg gegangen. Zwischendurch habe ich öfter gedacht: Das hätte mir auch passieren können – als 16-/17-Jährige gegenüber einer Respektsperson Nein zu sagen, hätte ich wohl auch nicht geschafft. 

Sie sprechen von toxischen Beziehungen, welche die Betroffenen mit Rolf R. geführt haben, was war besonders vergiftend daran?

Gause: Dass er seine Rolle als Pfarrer und religiöser "Guru" für seine sexuellen Bedürfnisse ausgenutzt hat und dabei auch noch mit Versatzstücken aus einer kruden Theologie manipuliert hat. 

Der christliche Glaube wird bewusst von Rolf R. benutzt, um die betroffenen Frauen zu binden und "ruhig" zu halten. Simone W. sagt in einem Interview beispielsweise: "Ich habe ihn als Seelsorger gebraucht". Yvonne B. nimmt die Schuld auf sich und sagte zu Ihnen, dass sie drei Jahre gebraucht hat, um sich zu vergeben. Hat das was mit Macht zu tun?

Es handelte sich um junge Frauen in schwierigen persönlichen Situationen, die dadurch vulnerabel waren, das hat der Pfarrer ausgenutzt; in meinen Augen hat er sich bewusst und gerne als Charismatiker aufgeführt und hatte ein besonderes Bewusstsein für seine pastorale Macht.

Der Missbrauch findet auf verschiedenen Ebenen statt, er reicht körperlich vom Anfassen bis zur Penetration, Amtsmissbrauch in Folge der Abhängigkeit in Bezug auf das Arbeitgeber-, Praktikanten- und Angestelltenverhältnis bis zum seelischen und spirituellen Missbrauch als Pfarrer und Seelsorger. Rolf R. begründet sein Verhalten auch damit, dass alles in Liebe geschehe und diese 
teilbar sein. Macht es diese Konstellation besonders dramatisch für die Betroffenen? Und besonders schwerwiegend für die Kirche?

Gause: Das Machtgefälle zwischen Pfarrer und Gemeindegliedern bzw. den Haushaltshelferinnen, die unhinterfragbare Autorität der Amtsperson sind Spezifika der Zeit und so auch in anderen gesellschaftlichen Institutionen (Schule, Universität) vorhanden, da aber der Anspruch der Kirche Jesu Christi ein anderer ist, wiegt hier der Machtmissbrauch besonders schwer.

Etliche Personen innerhalb der Struktur der Kirche haben etwas gewusst, Beschwerden wurden eingereicht und Briefe geschrieben und nichts unternommen, abgesehen von einem Therapieangebot in Bezug auf den Alkoholmissbrauch und einer Versetzung in eine andere Gemeinde. Wurde da bewusst "weggesehen"? 

Gause: Es kann nicht sein, was nicht sein darf – und: Die damals noch fast komplett männlich dominierte Kirche verstand sich zunächst einmal als die Institution, die makellos zu sein hatte, und den Amtsbrüdern verpflichtet, die man ja auch kannte, mit denen man zusammen studiert hatte, in Vikariatskursen gesessen hatte, sich regelmäßig traf etc. 

Eine besondere Rolle kommt in ihrer Studie die Rolle des Pfarrers und des Pfarrhauses, aber auch allgemein zu, wie lässt sich diese knapp beschreiben?

Gause: Auch das Pfarrhaus ist eine evangelische "Erfindung" und hatte als besonderer Ort, Vorbild zu sein. Die Hochschätzung des Pfarrers als Autorität führte bei vielen zum Wegsehen.

Welche Bedeutung haben für diesen Fall die historischen Rahmenbedingungen (68-Jahre Sexualitätsdiskurse, Rolle der Pfarrfrau etc.?

Gause: Einige Personen waren ja selbst mit den "68-ern" in Berührung gekommen. Rolf R. hat sich hier offensichtlich offiziell jedenfalls abgegrenzt – vor allem durch die Alternativen Christen bedingt und seine konservative/evangelikale Positionierung und die Gemeinden, in denen er war. Die Enttabuisierung von Sexualität hat aber offensichtlich hineingewirkt. Ein Beispiel: Der Pfarrer spricht mit einer jungen Frau, während er in der Badewanne liegt!

Was hat Sie bei der Recherche besonders überrascht? Positiv wie negativ?

Gause: Negativ: Das fehlende Erinnerungsvermögen sämtlicher Personen, die die Aufsicht über Rolf R. hatten. Positiv: Die Interviewten, die eben nicht Opfer blieben, sondern sich ihr Leben zurückerobert haben und das auch ausstrahlten. Wobei ich natürlich nur mit den Frauen gesprochen habe, die sich das zutrauten – es gibt sicherlich noch andere, die mit dem Missbrauch nicht fertig geworden sind.

Sie wollen keine direkten Handlungsempfehlungen geben, wie sich Missbrauch verhindern ließe, zeigen aber Strukturen in der Kirche auf, die es in diesem Fall ermöglicht haben. Was sind Ihre Erkenntnisse daraus?

Gause: Klare Regelungen im Hinblick auf den Umgang von Pfarrer/-in und Gemeindeglied (Abstinenzgebot); Einsatz unabhängiger Ombudspersonen, die klare Trennung von öffentlichen und privaten Räumen (Pfarrhaus) und die  Auseinandersetzung mit der Macht-Thematik bereits im Studium und dann im Vikariat.

Und wäre solch ein Fall heute auch noch möglich?

Gause: Ja, leider...

Warum lohnt es sich für Menschen, Ihr Buch zu lesen?

Gause: Es zeigt, mit welchen Manipulationen machtbewusste Menschen/Männer vulnerable Personen gefügig machen können und, dass dies eben auch im Raum der Kirche möglich ist – so schrecklich einem das als Christenmensch auch erscheint. Ich halte es jedoch auch für ein generelles, 
gesellschaftliches Problem: Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen besteht fort und Mädchen/Frauen lernen bis heute eher ihre Bedürfnisse zu verleugnen und sich Männern unterzuordnen, als umgekehrt. Es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, und die Gesellschaft schaut nicht hin (Schule, Sportvereine, Universität, Institutionen allgemein).

Informationen zum Buch:
"Gott habe ihm gesagt, er solle mich zur Frau machen", Missbrauch in der Evangelischen Kirche - eine Einzelfallstudie, Ute Gause, Gütersloher Verlagshaus