Potsdam (epd). Der russische Angriffskrieg hat die ukrainische Bevölkerung nach den Worten des Militärsoziologen Timo Graf tiefgreifend und nachhaltig traumatisiert. Die gesellschaftlichen Wunden würden Jahrzehnte benötigen, um zu heilen - falls dies überhaupt möglich sei, sagte der Wissenschaftler vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Bedrohung sei nicht nur an der Front spürbar. Ständige Raketenangriffe, wirtschaftliche Not und familiäre Trennungen führten zu tiefen Narben in der Gesellschaft.
Besonders betroffen seien Kinder: „Viele werden durch den permanenten Schlafentzug in ihrer körperlichen Entwicklung gestört, die ständige Angst wirkt sich massiv auf die Psyche aus“, sagte Graf. Auch die Frauen und Männer seien mehrfach belastet. Beispielsweise fehlten in vielen Betrieben die Hälfte der Mitarbeiter, da diese Dienst in der Armee leisteten. So laste die Arbeit auf weniger Schultern. Das wiederum wirke sich auf die wirtschaftliche Leistung des Landes aus. Darüber hinaus habe ein großer Teil der Bevölkerung Verluste in der Familie hinzunehmen.
Dennoch zeigt die ukrainische Gesellschaft Graf zufolge eine hohe Widerstandskraft: Viele hielten bewusst an Alltag und sozialem Leben fest, um sich gegen die Kriegsbelastungen zu wappnen. Das werde den Ukrainern auch im deutschen Diskurs häufig negativ ausgelegt. „Aber man muss verstehen, dass dieser mitunter krampfhafte Versuch, Normalität zu leben, auch eine Art kollektiver Traumabewältigung sein kann“, sagte er: „Momente der Freude, der Ablenkung und des Genusses können überlebenswichtig sein.“
Weiterhin organisiere die Gesellschaft aktiv den Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Viele Menschen hätten im Angesicht des Krieges einen Einstellungswandel durchlebt: „Die Wehrbereitschaft ist gestiegen, aber ebenso muss man anerkennen, dass einige, die in den Umfragen vor der Invasion angegeben haben, dass sie bereit wären, in einem solchen Fall für das Land Militärdienst zu leisten, davon Abstand genommen haben“, sagte Graf. Das hänge stark von der individuellen Betroffenheit ab, und auch davon, wie der Aggressor selbst agiert: Wenn Kriegsverbrechen bekannt würden, greife das die „Seele der Nation“ an. „Das ruft eine andere Wehrbereitschaft auf, als wenn sich der Feind an gewisse Grundregeln des Krieges und das Völkerrecht hält - beides tut Russland nicht“, sagte Graf.