Der Papst wählt markige Worte. "Ein wilder und unerwarteter Sturm herrscht nun in eurem Land", schreibt Pius IX. im Februar 1875 in seiner Enzyklika "Quod nunquam" an die Bischöfe in Preußen. Und weiter: "Der göttliche Richter wird diese unwürdigen Männer verdammen."
Mit diesen "unwürdigen Männern" dürfte Pius zuallererst den preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck gemeint haben. Denn unter dessen Ägide setzen Preußen und das 1871 gegründete Deutsche Reich schon seit Jahren die katholische Kirche unter enormen Druck. Als "Kulturkampf" ist dieser Streit heute bekannt, in dem die Behörden Priester und Bischöfe gängeln und sogar verhaften, Orden verbieten und in der Öffentlichkeit gegen Gläubige vorgehen.
Dabei ist der Kulturkampf kein rein deutsches Phänomen, auch in anderen europäischen Ländern geraten Kirche und Staat aneinander. Drei Gründe benennt der Historiker Benjamin Ziemann von der britischen Universität Sheffield für diesen Konflikt: Erstens eine liberale Elite, die sich als Vorkämpfer für eine gesellschaftliche Öffnung betrachte, zweitens eine katholische Kirche, die auf einen antimodernen Kurs einschwenke, und drittens ein Interesse insbesondere der Unterschichten an Frömmigkeit. "Hier prallen zwei Gesellschaftsmodelle aufeinander", erklärt der Forscher.
In Deutschland beginnt der Kulturkampf schon vor der Reichsgründung 1871, zuerst in Baden. In deutschen Landen tobt der Kampf besonders heftig, denn sie sind - im Unterschied zu den meisten anderen Staaten in Europa - konfessionell gemischt. Die Protestanten sind nicht nur die Mehrheit im Reich, sondern auch generell staatsnäher als die Katholiken - schon allein deswegen, weil die Fürsten die Oberhäupter ihrer evangelischen Landeskirchen sind.
Hinzu kommen politische Gründe. Katholiken machen gut ein Drittel der Reichsbevölkerung aus. Sie wählen relativ treu die Zentrumspartei als ihre parlamentarische Vertretung. Das Zentrum ist dadurch eine respektable politische Macht. Zwar ist es loyal zum Reich, arbeitet im Reichstag aber auch mit partikularistischen Minderheiten zusammen, etwa den katholischen Polen und Elsässern. Zudem steht die Zentrumspartei in politischer Opposition zu den Konservativen und Nationalliberalen, auf die sich die Bismarck'sche Regierung weitgehend stützt.
Das macht die Zentrumspartei für Bismarck zum roten Tuch. Er bezeichnet deren Anhänger in Bausch und Bogen als Reichsfeinde. Rom tut wenig, um dieses Misstrauen zu zerstreuen, im Gegenteil. Vor Jahren schon ist die katholische Kirche auf einen antimodernen Kurs eingeschwenkt. 1875 eskaliert der Konflikt dann vollends. Schon einen Tag nachdem Papst Pius seine Enzyklika "Quod nunquam" veröffentlicht hat, am 6. Februar 1875, beschließt das Deutsche Reich die Zivilehe, die es in Preußen schon ein Jahr lang gibt: Ab dem 1. Januar 1876 müssen im gesamten Reich Ehen vor einem Standesbeamten geschlossen werden.
Strafen für politische Äußerungen
Ein ganzes Bündel von Gesetzen folgt. Schon seit 1871 werden Geistliche mit Haftstrafen belegt, wenn sie sich im Amt politisch äußern. 1875 sind ein Viertel der katholischen Pfarrstellen unbesetzt, entweder weil ihre Inhaber im Gefängnis oder untergetaucht sind. Keiner der elf Bischöfe in Preußen ist mehr im Amt, fünf von ihnen sogar in Haft. Die Katholiken geben nicht klein bei, sie mobilisieren und schotten sich in ihrem eigenen Milieu ab. Katholische Vereine für alle möglichen Bereiche des Lebens entstehen.
Als 1876 drei Mädchen in Marpingen im Saarland die Jungfrau Maria erschienen sein soll und in der Folge Tausende Gläubige nach Marpingen kommen, schickt der preußische Staat Soldaten, um mit aufgepflanzten Bajonetten die Pilger auseinanderzujagen. Die drei Mädchen und der örtliche Pfarrer werden kurzzeitig eingesperrt. "Die preußischen Behörden glauben, sie könnten auf den katholischen Saarländern herumtrampeln", beschreibt Ziemann.
1877 und 1878 wird das Zentrum bei Wahlen zweitstärkste Kraft im Reichstag. Bismarck erkennt schließlich, dass er den Konflikt nicht gewinnen kann. Eine Möglichkeit zur Deeskalation bietet schließlich der Wechsel auf dem Heiligen Stuhl 1878. Papst Leo XIII. ist kompromissbereiter als Pius. Verhandlungen beginnen, doch es dauert bis 1886/87, dass die sogenannten Friedensgesetze viele Daumenschrauben gegen Katholiken lösen.
Einige der Maßnahmen bleiben aber in Kraft - und sind es bis heute. Die Trennung von Kirche und Staat beispielsweise, die staatliche Schulaufsicht oder die Zivilehe. Der Jesuitenorden bleibt bis 1917 verboten. Spitzel sitzen noch einige Zeit lang in Gottesdiensten und zeigen Priester an, etwa 1905 einen Pfarrer im südbadischen Stetten, der seinen Gläubigen gepredigt hatte: "Wenn ihr liberal wählt, verrecken euch die Kälber."
Im heutigen Streit um Kruzifixe und Kopftücher in Klassenzimmern oder Gerichtssälen sieht Ziemann ähnliche Mechanismen am Werk wie damals: "Es geht jeweils darum, welchen Raum Religion in der Öffentlichkeit einnehmen darf."