Wie Poesie nach sexuellem Missbrauch helfen kann

Frau schreibt in eine Notizbuch
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Poesie sei ein Weg, seine traumatischen Erfahrungen in Sprache zu gießen, sagt Mitautorin Annette Buschmann.
Dialog zu "unsagbaren Worten"
Wie Poesie nach sexuellem Missbrauch helfen kann
Für traumatische Erfahrungen gibt es oft keine Worte. Sie entziehen sich der Sprache. Annette Buschmann und Andreas Stahl haben gemeinsam das Buch "Unsagbare Worte. Trauma, Poesie und die Suche nach Gott" veröffentlicht. Buschmann ist Pastorentochter, die als Kind durch ihren Vater sexuell missbraucht wurde, Andreas Strahl arbeitet akademisch an einem theologischen Beitrag zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Für evangelisch.de hat Günter Hänsel mit den Herausgebenden gesprochen.

In Poesie versprachlicht Annette Buschmann, was sie erlebt hat. Die Gedichte bezeugen die Erschütterungen in ihrem Leben, ihrem Glauben und die Suche nach Hoffnung. Andreas Stahl schaut von Literaturwissenschaft, Psychotraumatologie und Theologie auf die Gedichte. Beide gehen in einen Dialog. Das Buch wird so für sie zu einer Sprachhilfe für das Unsagbare.

evangelisch.de: Frau Buschmann, Herr Stahl, was hat Sie zu dem gemeinsamen Buch bewogen?

Annette Buschmann: Einige der Gedichte wurden auf der Homepage der Initiative " Gottessuche" veröffentlicht. Als Andreas mich auf meine Texte ansprach, hat mich das sehr bewegt. Ich hatte selbst die Idee, Texte zur Verfügung zu stellen und habe das an verschiedenen Stellen auch getan. Ein gemeinsames Buch mit einem Pfarrer und Theologen war ein wichtiger Befreiungsschritt für mich. Die behutsamen Interpretationen von Andreas haben mich selbst noch einmal neu auf die poetischen Texte schauen lassen. Ich bin froh, dass uns dieser gemeinsame Weg möglich war und am Ende dieses Buch entstanden ist.

Andreas Stahl: Ich habe die Texte von Annette gelesen und mir war intuitiv klar: Das sind tief berührende Kunstwerke. Die müssen gelesen und gehört werden. Und ihre Botschaft ist besonders in der aktuellen Situation der evangelischen Kirche wichtig. Gleichzeitig sind die Texte anspruchsvoll. An manchen Stellen braucht man einen fundierten traumawissenschaftlichen und theologischen Hintergrund, um sie zu verstehen. Vielleicht kann das mein Beitrag sein.

Frau Buschmann, im Vorwort des Buches schreiben Sie, dass sie hoffen, dass durch das Heraustreten aus der Anonymität sich Menschen berühren lassen und dafür eintreten, dass Gewalt und ihre Folgen überwunden werden. In Poesie haben sie versprachlicht, was sie erlebt haben. Was ist Ihnen an diesem Zugang wichtig?

Buschmann: Wie sagt man das Unsagbare? Poetische Bilder zu finden und mit diesen Bildern zu benennen, was nicht ausgesprochen werden kann und darf, war und ist für mich ein Weg der Befreiung von Sprachlosigkeit. Mein Gesicht zu zeigen, meinen Namen zu nennen, war mir nach langem inneren Ringen wichtig. Ich will, dass diese Texte auch sichtbar zu mir gehören.

Andreas Strahl, Sie arbeiten akademisch an einem theologischen Beitrag zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Wie ging es Ihnen beim Lesen der Gedichte?

Stahl: Ich habe es als großes Privileg empfunden, mit diesen Texten arbeiten zu dürfen. Ich war immer wieder beeindruckt von deren Tiefe und Aussagekraft. Gleichzeitig hat mich der Schmerz der dahinterstehenden Erfahrungen immer wieder sehr berührt.

"Mit Poesie ist Weite möglich, poetische Bilder sind ein Weg, wenn es die Sprache verschlägt, wenn die Worte fehlen." Annette Buschmann

Worin liegt die Kraft der Poesie, Frau Buschmann?

Buschmann: Mit Poesie ist Weite möglich, poetische Bilder sind ein Weg, wenn es die Sprache verschlägt, wenn die Worte fehlen. Zugleich ermöglichen sie es den Lesenden, das Eigene in dieser Sprache zu finden. Sie laden zu Interpretation ein, die für die Lesenden auch verschieden sein dürfen. Sie ermöglichen unterschiedliche emotionale Zugänge.

Gedichte können eine Sprachhilfe für Menschen sein, die Traumatisches erlebt haben, Herr Stahl. Warum?

Stahl: Es ist schwierig, Erfahrungen in Worte zu fassen. Bei traumatischen Erfahrungen ist es noch ungleich schwieriger. Sie machen oft sprachlos. Doch poetische Texte mit ihrer Wortwucht und ihrer Offenheit bewegen sich an der Grenze des Sprachlichen. Und sie bieten eine Form an, in die andere Menschen ihre Erfahrung hineinlegen können. 

Frau Buschmann, Ihr Gedicht "Ich träume dich Gott" beschreibt die Ambivalenz der Gottessuche zwischen Angst und Hoffnung. Was bedeutet für Sie Hoffnung?

Buschmann: Hoffnung hat für mich verschiedene Seiten. Da ist die aktive Haltung der Hoffnung, für die ich mich entscheide. Vàclav Havel hat diese Seite der Hoffnung so klar benannt, dass Hoffnung eben nicht die Überzeugung ist, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. Und auf der anderen Seite gibt es Hoffnung, die ich mir nicht selbst geben kann, sondern wo andere Menschen stellvertretend für mich hoffen. Das ist notwendig, wenn meine eigene Hoffnung nicht ausreichend zur Verfügung steht. Letztlich ist mein Grund der Hoffnung, dass Gott will, dass wir leben und damit Hoffnung in der Welt ist, die nicht nur von unserer Kraft und unserem Willen abhängt. Es gibt eine Hoffnung, die über alles Irdische hinaus geht.

Herr Stahl, Annette Buschmann spricht Gott in ihrem Gedicht "Halte mich Gott" direkt an:
"...durch meine Angst hindurch
halte du mich der du für Hoffnung stehst" (S. 244)
In diesen wenigen Worten scheint die Suche nach Hoffnung und nach Gott auf. Wie lässt sich diese Gottesbeziehung beschreiben?

Stahl: Das ist eine sehr große Frage. Sie durchzieht das ganze Buch. Die Texte gehen durch die Erschütterung verschiedenster Gottesbilder hindurch und durch die Trümmer zerstörten Vertrauens. Und doch bleibt diese Größe "Gott" eine Adresse. Da ist eine Realität, die Quelle der Hoffnung ist und die hält. Auch wenn Fragen bleiben. So würde ich es beschreiben.

Ihr letztes Gedicht "Wo bist du Gott?", Frau Buschmann, berührt sehr:

Wo bist du Gott?

In Übermut des Juliabends
zwischen Wald und Feld
frage ich ihn
Hey Gott, wo bist du

Lachend antwortet er
Hier bei Dir

Ich atme schwer
Wo warst Du damals
Gott

Im Schweigen höre ich ihn weinen
(S. 51)

Schweigen bereitet sich aus. Gott weint. Die harte Realität wird in Ihren Gedichten eben nicht ausgeblendet oder gar beschönigt. Auch falsche Vertröstungen bleiben aus. Zugleich leuchtet an vielen Stellen in Ihren Gedichten Hoffnung auf. Worin liegt diese Hoffnung? Wie kann sie Raum bekommen?

Buschmann: Hoffnung braucht immer wieder den eigenen Entschluss, sie nicht aufzugeben. Hoffnung braucht Beziehungen zu anderen Menschen, die von Vertrauen geprägt sind. Denn nur dann kann ich annehmen, dass jemand für mich hofft. Sie braucht eine Verankerung in Spiritualität, in etwas, was uns und unserem Handeln Sinn gibt und über uns und unsere Kraft hinaus reicht. Und sie braucht auch das Wissen darum, wie verwundbar wir sind und damit auch unsere Hoffnung, denn dann werden wir behutsam sein und sie hüten als ein kostbares Geschenk.

 

Die Suche nach und das Ringen mit Gott werden nicht aufgegeben. Kann darin Zuversicht und Halt liegen, Herr Stahl?

Stahl: Ich glaube, die Überzeugung, dass das so sein kann, hat das ganze Projekt mitgetragen. Es ist ein hoffnungsvolles Buch entstanden. Aber eben keines mit billiger oder platter Hoffnung. Dem Schmerz und der Hoffnungslosigkeit wird nicht ausgewichen. Die Hoffnung ist hart errungen, aber sie ist lebendig.

Das Buch "Unsagbare Worte. Trauma, Poesie und die Suche nach Gott" ist im Herder Verlag erschienen. 288 Seiten, 28 Euro.