Friederike Krippner ist Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin. Immer wieder bietet ihre Einrichtung Workshops und Vorträge zur Demokratiebildung an. Im Gespräch mit evangelisch.de schaut sie auf die Ergebnisse der Bundestagswahlen.
evangelisch.de: Die Wahlen haben einen Rechtsruck und eine Spaltung der Gesellschaft offengelegt. Wie ist die zu überwinden, Frau Krippner?
Friederike Krippner: Wir haben derzeit keine Spaltung der Gesellschaft, wie wir sie in den USA beobachten können. Denn nach wie vor wählt die Mehrheit der Menschen bei einer - dieses Mal sehr hohen Wahlbeteiligung - Parteien, die der Demokratie verpflichtet sind. Wir haben zumindest die Chance auf eine einigermaßen stabile, demokratische Koalition. Auch das gilt es zu würdigen.
Aber die Lage ist dennoch besorgniserregend. Die Bundestagswahlen haben bestätigt, was wir seit mehreren Jahren beobachten können, nämlich die steigenden Zustimmungswerte, die die in Teilen gesichert rechtsextreme und in jedem Fall rechtspopulistische AfD bekommt. Die sehr hohen Zustimmungswerte bei den Kommunal- und Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wurden nun noch einmal übertroffen. In allen fünf ostdeutschen Bundesländern wurde die AfD die mit Abstand stärkste Partei.
Zugleich wäre es falsch, die AfD zu einem alleinigen Problem des Ostens machen zu wollen. Auch in den alten Bundesländern lag die Zustimmungsrate bei ungefähr 18 Prozent – alleine in NRW leben mehr Menschen, die dieses Mal ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, als in allen ostdeutschen Ländern zusammen.
Wie kann der Trend zum Rechtspopulismus gestoppt werden?
Krippner: Vor der Beantwortung dieser Frage stehen zunächst einmal eine sachliche Analyse und das Zuhören: Warum wählen Menschen eine Partei, die – zum Beispiel, wenn man ganz nüchtern ökonomisch auf die im Wahlprogramm vorgeschlagene Steuerpolitik schaut – den Interessen der allermeisten ihrer Wählerinnen und Wähler widerspricht? Warum können Hass und Hetze so greifen?
Und Ihre Vermutung?
Krippner: Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Differenz zwischen den Ergebnissen der Landtags- und denen der Bundestagswahlen legt nahe, dass bei dieser Bundestagswahl mindestens auch die Ampel abgestraft werden sollte. Die Konzentration auf Migrationsfragen im Wahlkampf hat offenbar nicht geholfen, Menschen von der AfD auf andere Parteien umschwenken zu lassen, die ebenfalls ein scharfes Agieren versprechen. Offenbar gibt es ein großes Misstrauen in Institutionen, aber auch im Blick auf eine positive Gestaltung von Wirklichkeit durch die parlamentarische Demokratie, gerade im Osten. Und schließlich tun die Sozialen Medien ihr Übriges, weil hier Fake News, Hass und Hetze in Windeseile verbreitet werden können.
Was kann den Aufstieg der rechtsextremen AfD bremsen?
Krippner: Weil es so unterschiedliche Faktoren für den Wahlerfolg der AfD gibt, werden auch die Antworten zur Stärkung der Demokratie darauf verschieden sein müssen: angefangen bei einer stärkeren Investition in (außer)schulische Demokratiebildung über Lösungen für sachpolitische Fragen bis hin zu Antworten auf die derzeit weitgehend ungezügelte Symbiose von Kapitalismus und politischer Desinformation in den sogenannten Sozialen Medien.
"Wichtig ist es, zu akzeptieren, dass es viele Möglichkeiten gibt, auf diese Welt und auf ein Zusammenleben zu schauen. Hier können wir uns vielleicht noch mehr als zuhörende Kirche zeigen"
Welche Rolle können die Kirchen und Akademien dabei spielen?
Krippner: Die Kirchen haben als Gemeinden und in ihrem diakonischen Handeln einen Riesenvorteil: Sie sind nach wie vor in der Fläche vertreten. Diese Fläche gilt es zu nutzen. Es ist gut, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer da sind, wenn sie zuhören, wenn Gemeinden sich gemeinsam organisieren, wenn Diakonie und Caritas vor Ort sind – in einer gemeinsam gelebten Glaubenspraxis liegt sehr viel Verständigungspotenzial.
Es ist dabei richtig, sich von menschenfeindlichen Positionen klar und deutlich abzugrenzen. Das tun beide Kirchen immer wieder, zum Glück. Aber ebenso wichtig ist es, zu akzeptieren, dass es daneben viele Möglichkeiten gibt, auf diese Welt und auf ein Zusammenleben zu schauen. Hier können wir uns, dass sage ich durchaus selbstkritisch, vielleicht noch mehr als zuhörende Kirche zeigen.
Für welches Menschenbild stehen die Kirchen ein?
Krippner: Das christliche Weltbild bringt mit sich, dass wir nicht nur die Würde jedes Menschen respektieren, sondern auch grundsätzlich erstmal in der Gottesebenbildlichkeit anerkennen, dass allen Menschen etwas Gutes innewohnt. Die allermeisten Menschen wollen ihren Mitmenschen nicht schaden, sie wollen friedlich leben, sie wollen in Gemeinschaft leben. In ihren guten Momenten können die Kirchen Verständigungsorte sein, um zu überlegen, wie eine solche Gemeinschaft aussehen kann.
Die allermeisten Menschen tragen aber auch ihr Päckchen, bringen Verletzungen mit, Ängste. Diese Ängste und Verletzungen wahrzunehmen, auch das ist ein wichtiger Schritt zur Überwindung von Spaltung. Allerdings darf es nicht dabei bleiben: Zum christlichen Menschenbild gehört auch, dass jede und jeder von uns Verantwortung trägt – für sich und in dieser Gesellschaft. Diese anzuerkennen und wahrzunehmen, dazu kann christlicher Glaube ermuntern.
Wie kann Kirche weiter ins Handeln kommen für die liberale Demokratie?
Krippner: Ein Potential liegt im Bildungshandeln der Kirchen in unterschiedlichen Zusammenhängen: Kindergärten und Schulen in evangelischer Trägerschaft sind Orte an denen Toleranz, Verpflichtung zur Demokratie, Verständigung über Glaubensfragen zum Lehrplan gehören. Wir wissen, dass frühe Prägungen entscheidend sind.
Auch kirchliche Erwachsenenbildung bringt ganz unterschiedliche Menschen zusammen. Evangelischen Akademien sind Orte, an denen der respektvolle Austausch über kontroverse Themen gelingt, in ihren besten Momenten sind sie Zeuginnen der Hoffnung, dass diese Welt eine andere sein kann, dass sie sich zum Besseren wandeln kann. Solches (politische) Bildungshandeln hat ganz viel Potential.
In den ostdeutschen Bundesländern ist die AfD stärkste Fraktion geworden. Was bedeutet das für Politiker, die die Demokratie stärken wollen?
Krippner: Polarisierung scheint derzeit weit oben auf der Agenda zu stehen, schaut man sich weite Teile des Wahlkampfes an. Hass und Hetze greifen bei einigen, aber doch nicht bei der Mehrheit. Nochmal: Die allermeisten Menschen wählen demokratisch. Es gibt auch eine tiefe Sehnsucht nach Lösungen, nach Sachpolitik.
Wo zeigt sich das?
Krippner: Was wir in den Akademien wahrnehmen ist, dass die Menschen vieles umtreibt: die Gesundheitsversorgung, Pflege, bezahlbarer Wohnraum, Bildung, Digitalisierung, die Klimakrise, gemeinsames Handeln in der EU. Alles Themenfelder bei denen noch viel Luft nach oben ist, die alle kompliziert sind und komplexe Lösungen verlangen – aber die eben doch bearbeitet werden können. Es hat mich erschüttert, wie wenig Raum im Wahlkampf für Themen der sozialen Gerechtigkeit war.
Erklärt das vielleicht den überraschenden Erfolg der Linken?
Krippner: Vielleicht. Sie haben jedenfalls im Wahlkampf stark auf Themen der sozialen Gerechtigkeit gesetzt. Aber auch die anderen demokratischen Parteien haben ja soziale Lösungen in ihrem Programm. Trotzdem standen leider größtenteils ganz andere Themen im Fokus des Wahlkampfes. Das ist bedauerlich! In jedem Fall haben die Parteien, die nun regieren werden, die Möglichkeit, all diese Themen anzugehen. Die Demokratie stärken, heißt aus meiner Sicht: Zurück zur Sachpolitik und erklären, warum man so handelt, wie man handelt. Klingt einfach… ist es vielleicht auch!