"Herz der Finsternis" ist das wohl bekannteste Werk von Joseph Conrad. In der vor gut 125 Jahren erschienenen Erzählung des polnisch-britischen Schriftstellers berichtet der Kapitän eines Flussdampfers von seinen furchtbaren Erlebnissen während einer Reise durchs kolonisierte Afrika; Francis Ford Coppola hat sich durch die Schilderungen des grausamen Umgangs mit den Einheimischen zu seinem Vietnam-Epos "Apocalypse Now" (1979) inspirieren lassen. Mit Buch und Film hat dieser "Tatort" im Grunde nichts gemein, aber natürlich hat Regisseurin Claudia Garde den Titel "Herz der Dunkelheit", wie sich "Heart of Darkness" auch übersetzen lässt, nicht zufällig gewählt.
Frühere Krimis aus Dresden waren dennoch deutlich düsterer. Der Hochspannungs-Thriller "Das Nest" (2019) zum Beispiel: purer Horror.
"Parasomnia" (2020) war ebenfalls ziemlich gruselig, und auch "Unsichtbar" (2021) bewegte sich zeitweise in Gefilden jenseits der Wirklichkeit. Gemessen daran erzählen Garde und Koautor Ben von Rönne mit dem achtzehnten Fall für Karin Gorniak (Karin Hanczweski) eine sehr diesseitige Geschichte, in der es dennoch ausgesprochen abgründig zugeht, wie sich schließlich zeigt.
Die Handlung beginnt mit einer jener Hauspartys, die irgendwann aus dem Ruder laufen: Die vermögenden Eltern sind verreist, die Tochter lädt ihre Schulklasse zur vorgezogenen Abi-Feier. Dank Alkohol und Drogen bekommen die meisten gar nicht mehr mit, was sich abspielt, aber Marlin ist mit einem Schlag nüchtern, als er auf der Suche nach einem freien Klo im Pool-Gebäude landet: Mitschüler Janusz liegt leblos in der Dusche. Kaum hat Marlin die Polizei angerufen und die Adresse genannt, nehmen ihm einige andere das Telefon ab. Er rennt davon und geradewegs auf eine Landstraße, wo er von einem Lkw erfasst wird.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Etwas makaber, aber wirkungsvoll führen Garde, deren "Tatort"-Beiträge (zuletzt "Restschuld" aus Köln über Menschen in der Schuldenfalle) stets einen großen Dramenanteil haben, nun die zweite Ebene der Geschichte ein, als der Film von der unter Schock stöhnenden Fahrerin zu einer Bettszene wechselt: Gorniak hat einen neuen Freund, und offenbar ist es was Ernstes, denn er bietet ihr an, bei ihm einzuziehen. Witwer Paul Brahms (Hannes Wegener) ist Psychiater, aber vor allem ist er der Vater der siebzehnjährigen Romy (Charlotte Krause), die ebenfalls auf der Party war. Später wird sie aussagen, sie sei früh nach Hause gegangen und könne deshalb nichts zur Wahrheitsfindung beitragen, aber Gorniak weiß, dass das gelogen ist: Womöglich zur gleichen Zeit wie Marlin hat auch sie das Badezimmer gesucht und dabei gesehen, dass Romys Bett leer war.
Fortan entwickelt die Handlung ihre Spannung auf beiden Ebenen: Weil Janusz’ vermeintliche Leiche verschwunden ist, wissen Gorniak und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) überhaupt nicht, ob der Fall tatsächlich ein Fall ist. Da von Janusz jedoch jede Spur fehlt, ermitteln sie weiter, was Gorniak prompt in die Bredouille bringt, als sie heimlich Romys Zimmer durchsucht und rausfindet, dass die Beziehung des Mädchens zu dem Jungen weitaus enger und zudem folgenreicher war, als sie behauptet.
Angesichts der erheblichen Bedeutung gerade der jugendlichen Mitwirkenden für den Film war deren Besetzung umso wichtiger. Die meisten, allen voran Charlotte Krause, Katharina Hirschberg, Filip Schnack, Max Wolter und Leander Lesotho, haben gemessen an ihren jungen Jahren schon beachtliche Filmografien vorzuweisen, andere sind noch vergleichsweise unerfahren, aber nicht minder präsent (Ginggan Maya Hörbe). Auf der Party tummelten sich rund dreißig Gäste, die meisten drängen sich auch am Tag danach im Flur des Präsidiums; eine gewisse Markanz bei der Auswahl der jungen Ensemble-Mitglieder dürfte daher ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Schlüsselfigur des Films ist jedoch Janusz, der Star der Clique. Louis Wagenbrenner verleiht ihm in den Rückblenden genau die richtige Mischung aus Charisma und Bosheit: Je intensiver sich die beiden Oberkommissarinnen mit der der Gruppendynamik der Klasse befassen, desto deutlicher wird, dass der junge Mann ein unberechenbarer schlimmer Finger war, dessen Sympathie unversehens in typisches Mobbingverhalten umschlagen konnte. Dass andererseits Gorniaks Ermittlungen gegen Romy und ihr nicht nur moralisch, sondern auch juristisch fragwürdiges Stöbern in den Sachen des Mädchens der Beziehung zum Vater nicht gut tut, ist ohnehin klar; "Herz der Dunkelheit" ist der letzte "Tatort" aus Dresden mit Karin Hanczweski.