Am Holocaust-Gedenktag haben Politik und Zivilgesellschaft vor einem drohenden Vergessen der NS-Verbrechen gewarnt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) rief dazu auf, sich stärker um die Erinnerung der jüngeren Generation an den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden zu bemühen. Mit Blick auf die abnehmende Zahl der Zeitzeugen wurde zudem ein Ausbau der Erinnerungskultur gefordert. Dazu gehörten auch verpflichtende Besuche von Gedenkstätten unter anderem für Schülerinnen und Schüler.
Kanzler Scholz nannte es in einem Interview "wichtig, dass wir möglichst vielen jungen Menschen ermöglichen, mit den noch lebenden Zeitzeugen zu sprechen". Das Interview führten die Neue Berliner Redaktionsgesellschaft, die "Stuttgarter Zeitung" und die "Stuttgarter Nachrichten". Scholz nahm neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Vizekanzler Robert Habeck und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (beide Grüne) am Montag in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an der zentralen Gedenkfeier teil.
Auch die 103-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer setzt im Kampf gegen Hass und Hetze auf die junge Generation. Damals, im Nationalsozialismus, hätten die Menschen "gejubelt, weil sie nicht wussten, wofür", betonte Friedländer: "Ihr seid klüger, ihr habt gelernt, ihr wisst, was Menschlichkeit ist, was sich gehört, was wir sind."
Auschwitz "war eine deutsche Erfindung"
Der Publizist Michel Friedman sagte bei einer parlamentarischen Gedenkstunde in Saarbrücken: "Der Judenhass ist keine deutsche Erfindung." Aber Auschwitz "war eine deutsche Erfindung." 80 Jahre danach sei jüdisches Leben in Deutschland so gefährdet wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Staatsministerin Roth erklärte: "Auschwitz steht auch für die Besetzung und brutale Unterdrückung Polens durch das nationalsozialistische Deutschland." Die deutsche Besatzungsherrschaft in ganz Europa sei in ihrem ganzen Ausmaß der Verbrechen bislang immer noch zu wenig bekannt und sollte viel stärker Teil der kollektiven Erinnerung werden.
Der Münchner Historiker Michael Wolfssohn sprach sich gegen "salbungsvolle Rituale" aus. Er sagte in Magdeburg bei der zentralen Gedenkveranstaltung des Landes Sachsen-Anhalt, Erinnerung sei unverzichtbar: "Auch ohne Ritual und Zeitzeugen weiß man, wer oder was Caesar oder die Kreuzzüge waren", so der Historiker: "Sollte ausgerechnet das Menschheitsverbrechen Auschwitz beziehungsweise Holocaust eines Tages vergessen werden? Unvorstellbar."
Die Bundesschülerkonferenz forderte für Schülerinnen und Schüler verpflichtende Gedenkstättenbesuche. Hintergrund seien "erschütternde Zahlen" zum Wissen über den Holocaust bei den 18- bis 29-Jährigen in Deutschland, teilte die ständige Konferenz der Landesschülervertretungen in Berlin mit.
Die Verfolgung von Menschen mit Behinderung wird nach Ansicht des Sozialverbandes VdK beim Gedenken noch immer nicht hinreichend berücksichtigt. "Die systematische Ermordung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung war eine der dunkelsten Stunden in der Geschichte, geprägt von unermesslicher Behindertenfeindlichkeit", sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele der Düsseldorfer "Rheinischen Post" (Montag).
Im Konzentrationslager Auschwitz wurden zwischen 1940 und 1945 rund 1,1 Millionen Menschen ermordet. Das Lager wurde zum Symbol der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Am 27. Januar 1945 wurden die letzten Gefangenen, die nicht auf die Todesmärsche getrieben wurden, von der sowjetischen Armee befreit. Der 27. Januar ist seit 2005 internationaler Holocaust-Gedenktag.