Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Bistum Würzburg (UKAM) fordert von der Leitung der Diözese ein noch stärkeres Engagement im Bereich Prävention und Intervention. Die personellen Ressourcen seien "aktuell nicht ausreichend für diese große Aufgabe", teilte die UKAM am Dienstag (8. April) nach Vorstellung des Missbrauchsgutachtens für das Bistum Würzburg mit. Zwischen 1949 und 2019 sollen sich 51 Personen an 226 Betroffenen vergangen haben. Hochgerechnet habe es vermutlich mehr als 3.000 Taten gegeben.
Laut der UKAM leisteten die aktuell 48 Präventionsberaterinnen im Bistum gute Arbeit. Dennoch sollten ihre Zahl ausgebaut, ihr Zeitbudget für die Präventionsarbeit erhöht und ihre Befugnisse erweitert werden. Diese Arbeit sei "zentral, um inneren Widerständen zu begegnen und die Pfarreien und Gemeinden auf dem Weg mitzunehmen". Auch forderte die achtköpfige Kommission, der auch zwei Betroffenenvertreter angehören, die Präventionsschulungen für alle Mitarbeitenden alle ein bis zwei Jahre verpflichtend zu machen anstatt wie bisher im Fünf-Jahres-Rhythmus.
Besonders wichtig sei auch, dass die Ehrenamtlichen im Bistum in die Präventionsarbeit und die Schutzkonzepte mit einbezogen werden. So kritisierte die UKAM etwa, dass es "keine systematische Erfassung" der Ehrenamtlichen gebe. Diese Forderung sei kein Ausdruck des Misstrauens, betonte die Kommission. Sie sei allein Ausdruck der Solidarität mit den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die vor den wenigen Einzelnen geschützt werden müssten. Zudem sollten "bestimmte Prozesse der Präventions- und Interventionsarbeit" verschriftlicht und verpflichtend werden.
Laut der am Dienstag von Rechtsanwalt Hendrik Schneider vorgestellten Missbrauchsstudie wurden von 1949 bis 2019 im Bistum Würzburg 51 Beschuldigte ermittelt. Diese 51 Beschuldigten sollen 449 Taten an 226 Betroffenen begangen haben. Ziehe man aufgrund teils ungenauer Angaben Schätzwerte heran, ergeben sich "3.053 Taten für denselben Personenkreis". Von den 51 Beschuldigten sind 50 männlich und 43 Kleriker. Für die Studie hat Schneider alle 240 Akten ausgewertet, die im Bistum Würzburg "im Zusammenhang mit Missbrauchsverdacht" geführt werden.
Schneiders Zahlen unterscheiden sich stark von denen der sogenannten MHG-Studie aus dem Jahr 2018. Damals wurden für das Bistum Würzburg Personalakten aus den Jahren 2000 bis 2015 durchleuchtet. Im Bistum Würzburg fanden sich allein nach dieser Aktenlage 48 beschuldigte Kleriker. Dass für 1949 bis 2019 laut der Schneider-Studie sogar weniger Kleriker als Beschuldigte gelten, wirft Fragen auf. Diese negative Abweichung von der MHG-Studie gilt auch in Gutachterkreisen nach Recherchen des Evangelischen Pressedienstes (epd) als "überraschender Befund".
Die Vorsitzende der UKAM, Anja Amend-Traut, sagte, man habe nur strafrechtlich relevante Fälle für das Gutachten herangezogen. Die UKAM-Vorsitzende ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Universität Würzburg. Auch Rechtsanwalt und Gutachter Schneider sagte, man habe sich auf strafrechtlich relevante Fälle beschränkt. Damit unterscheidet sich das Würzburger Gutachten von anderen Missbrauchsstudien, die zum Teil auch nicht strafbare Grenzverletzungen mit einbezogen haben.
Bei der ersten Tathandlung waren die Beschuldigten laut Gutachten im Schnitt 40,5 Jahre alt, die Betroffenen im Durchschnitt 9,8 Jahre. 62 Prozent der Betroffenen waren zwischen sechs und elf Jahren alt, als die Tat stattfand. Die Dauer der Übergriffe zog sich im Schnitt fast eineinhalb Jahre. Das Bistum erlangte im Schnitt 25,7 Jahre nach einer Tat Kenntnis von dieser, heißt es in dem Gutachten von Rechtsanwalt Hendrik Schneider. Bei 28,7 Prozent der für das Gutachten ermittelten Taten handele es sich um sexuellen Missbrauch, sexuelle Übergriffe oder Nötigung.
Der Würzburger Bischof Franz Jung hat das Gutachten am Dienstag von Gutachter Schneider und der UKAM zwar entgegengenommen und die Missbrauchsbetroffenen um Entschuldigung gebeten. Inhaltlich will er sich aber erst kommenden Montag (14. April) zum Gutachten äußern.