Ich kann mir keine idiotische Kirche vorstellen.
Ja, das ist ein provokanter Satz.
Aber wenn ich mal tief in Kiste mit Wortgeschichte greife, dann finde ich da in der Ecke der griechischen Antike das Wort ‚Idiot‘. Und dieses Wort bezeichnet einen Menschen, der sich aus den Belangen der Gesellschaft raushält und nur zum Wohle des eigenen Haushalts lebte und arbeitete. Ein Schimpfwort war Idiot nämlich nicht. Es beschreibt einfach jemanden, der für sich selbst bleibt.
Das Gegenteil davon war ein Mensch, der sich politisch engagiert hat. Im Wort politisch steckt das griechische Wort für Stadt/Staat.
Wenn ich nun also gedanklich wieder aus meiner Kiste auftauche, merke ich: Die beiden Wortpaare beschreiben für mich immer noch ganz wunderbar, warum die Kirche sich politisch einbringen soll. Sich politisch einzubringen, inhaltlich durch Papiere, öffentlich in (sozialen) Medien, ökonomisch als Trägerin von Kindertagesstätten oder Schulen, und republikanisch durch Lobbyarbeit ist ihr als Teil der Gesellschaft aufgegeben.
Eine Kirche, die Teil der Gesellschaft ist und also auch auf diese hin denkt und handelt, kann gar nicht anders, als sich zum Wohle dieser Gesellschaft einzubringen. Dass es dabei auch zu Krisenerfahrungen kommen kann – exemplarisch sei der gefühlte und faktische Relevanzverlust kirchlicher Aussagen benannt – ist normal. Wer sich für eine gerechte, nachhaltige und friedliche Idee von Zusammenleben einsetzt, sollte nicht jeden Widerspruch als Kränkung mit sich tragen.
Im Gegenteil: Die Erklärung der Menschenrechte, über die die Kirchen nicht aktiv nachgedacht hatten, hat die biblische Rede von der Gottebenbildlichkeit als zentralen Begriff menschlicher Würde überhaupt erst ermöglicht. Ein säkular-politischer Konsens kann sich also auch positiv auf die Kirche auswirken.
Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Frieden sind dabei große Begriffe, die Christ:innen sicher aus einer religiösen Perspektive beschreiben. Die aber trotzdem auch Teil einer nichtkirchlichen politischen Sphäre bleiben. In dieser gegenseitigen Anregung liegt gerade die Chance, dass die Kirche und die Gesellschaft durchdringen, verstehen und miteinander einander formen.
Biblisch formuliert der Prophet Jeremia dieses Anliegen in einer Rede Gottes im 29. Kapitel: "Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum HERRn; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch Euch wohl (Jer 29, 7 LUT)." Gottes Auftrag an die jüdische Gemeinde im Exil ist es, den inneren Zusammenhang von persönlichem Wohlbefinden und den äußeren Lebensbedingungen auch in einer Krisenzeit nicht zu vergessen.
Wer diesen biblischen Vers in der Zweckbeschreibung der Kirche unterschlägt, kündigt die Tatsache auf, dass die Kirchen immer in der Welt sind, auch wenn sie nicht von der Welt sind (Joh 17, 14).
Matthias Braun, geboren am 12. November 1986, ist Stadtjugendpfarrer des Evangelischen Dekanats Mainz. Er ist verheiratet und wohnt in Mainz. Seine Hobbys sind Brettspiele, Fastnacht und Tanzen. Braun ist Autor des Buches wie "Wie Mainzer beten" – 150 Psalme in Reimform. Aufgewachsen ist er in Bensheim und sein Konfi-Spruch ist Römer 1, 17.
Was wiederum zum Anfang und dem Wort ‚Idiot‘ zurückführt. Wer nur für sich selbst strebt, hat auch die Verbindung gekappt, dass persönliches Wohlbefinden sich in einer Gesellschaft entwickelt, die so viele Freiheiten gewährt, dass persönliches Wohlbefinden überhaupt möglich ist. Wer nur auf sich schaut, lebt gewissermaßen sein Wohlbefinden auf Kosten der anderen aus. Aber ist das nicht unsolidarisch und unfair?
Martin Luther hat für den Menschen, der auch bei aller guten Absicht das falsche tun kann, das Bild eines in sich selbst verkrümmten Menschen entwickelt. Auf sich zu achten, ist dabei natürlich notwendig und wichtig. Aber nur auf sich zu achten, ist eine perspektivenarme Nabelschau.
Ja, die ganze evangelische Rechtfertigungslehre lebt im Grunde davon, dass ein christlicher Mensch, der sich von Gott geliebt weiß und die Nabelschau aufgibt, aus lauter Dankbarkeit der Gesellschaft Gutes tut. Und das wird schon deshalb möglich, weil er, sie, dey die Augen von sich weg auf andere richten kann. Wunderbarerweise ohne sich selbst aus dem Blick zu verlieren. Das ist zutiefst politisch, insofern das Wort Stadt/Staat bedeutet.
Die Frage, ob sich die Kirche politisch einbringen soll, kann nur mit Ja beantwortet werden.
Die herausfordernde Folgefrage dieser Antwort aber ist: Wie kann sie das sensibel für die vielfältigen Ansichten in ihr selbst schaffen?
Ich vermute mal, dass die Frage nach der Verantwortung der Kirche in der Welt deshalb so große Wellen schlägt, weil sie einen politischen Konsens in der Kirche unterstellt, der nicht vorhanden ist. Bei allen großen Paradigmenwechseln in der Geschichte der Kirche war das so: Bei der Frauenordination, bei der Frage nach Homosexualität, bei der Altersgrenze zur Zulassung zum Abendmahl. Einen Konsens im Vorhinein gab es nie – höchstens vielleicht im "Heiligen Nein". Einen Konsens danach gibt es auch nicht, so wünschenswert er wäre.
Es braucht ganz offensichtlich auch eine politische Kompetenz nach innen, in die (Landes-)Kirchen hinein. Dazu zähle ich verlässliche Strukturen zur Meinungsäußerung in Gremien auf allen kirchlichen Ebenen, von der Gemeinde bis zur EKD. Dazu gehört auch die Fähigkeit, von der eigenen Fehlerhaftigkeit auszugehen und anzunehmen, dass die Gesprächspartner:innen auch mir ein Wissen voraushaben, von dem ich profitiere. Und dazu gehört auch der Mut, um die Vorläufigkeit unseres Handelns zu wissen und diese Vorläufigkeit dann auch zu akzeptieren.
Der Apostel Paulus ringt im 1. Korintherbrief, Kapitel 7, mit dieser Frage der Vorläufigkeit. Er empfiehlt, das Leben so zu Ende zu leben, als hätte man es nicht. Für ihn stand dabei vermutlich noch eine sehr konkrete Erwartung im Vordergrund: Wenn Christus in kurzer Zeit zurückkehrt, dann sollen sich Christ:innen nicht mehr mit Weltveränderung beschweren.
Das kann für eine Diskussion innerhalb kirchlicher Kommunikationsregeln auch so ausgelegt und geglaubt werden. Für eine Kirche, die sich der Gesellschaft verpflichtet weiß (und damit auch sich selbst als Teil der säkularen Gesellschaft, in der und aus der sie sich bildet), wird gut beraten sein, den Freiheitsimpuls dieses Kapitels auch in weltliche Sprache zu übersetzen.
Ein Vorschlag: Trefft Entscheidungen, aber so, dass Ihr nicht vergesst, dass sie geändert werden können. Stellt Euch eine perfekte Gesellschaft vor, aber hört nicht auf zu träumen, denn Perfektion hängt vom Zeitgeist ab. Seid moralisch, aber auch so gesittet, Eure Moral auf zeitgemäße Plausibilität hin zu prüfen.
Ich halte die Erkenntnis von Vorläufig- und Vergänglichkeit für einen echten politischen Mehrwert für den außer den Kirchen kaum noch jemand eintritt. Die Kirche als Erinnerungs- und Glaubensgemeinschaft kann hier nach innen und nach außen in allen inhaltlichen Äußerungen einen echten Wissensvorsprung einbringen, der die politische Debatte flüssig halten kann.
Gleichzeitig kann dieses Wissen auch nach innen die Strukturen und Willensbildungsmechanismen der Kirchen (Presbyterien, Synoden etc.) fluide halten und sie gerade so an vielen Stellen in Bund, Ländern und Kommunen ankerfähig machen.
Dann gelingt es auch dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Ohne dabei den zweiten Teil dieses Jesusworts zu vergessen.