König Charles fragt sich vermutlich gerade: War es tatsächlich nötig, Donald Trump zum Staatsempfang einzuladen? Am 28.2. übertrugen amerikanische Fernsehsender den Besuch Wolodimir Selenskyjs im Weißen Haus live. Donald Trump und JD Vance fielen über ihren Verbündeten her und demütigten ihn vor laufenden Kameras. Ein paar Tage später stellt Trump die militärische Unterstützung der Ukraine ein. Für die deutsche Politik wirft die Begebenheit wichtige Fragen auf. Im Rahmen dieser Kolumne habe ich Themen wie die Rekrutierung für die Bundeswehr oder die nukleare Abschreckung für Europas Sicherheit diskutiert, doch meine Aussagen zu diesen Themen lassen sich angesichts der neuen Entwicklungen nicht mehr aufrechterhalten.
Rückblick: Was ist geschehen?
Im Weißen Haus wollten Trump und Vance mit Selenskyj ein Abkommen unterzeichnen, das den USA ukrainische Bodenschätze im Wert von 300 Milliarden Dollar oder mehr sichert. Das ist ein Vielfaches des Werts der bisherigen amerikanischen Hilfsleistungen. Außerdem hatte sich Trump bereits zuvor zum Sprachrohr der Moskauer Propaganda gemacht, Selenskyj die Schuld am Krieg gegeben und ihn einen Diktator genannt. Beim Treffen im Weißen Haus erklären Trump und Vance nun Putin für vertrauenswürdig: Der werde den Waffenstillstand durchaus respektieren. Doch zu Sicherheitsgarantien sind sie nicht bereit, also den Waffenstillstand mit amerikanischen Truppen zu sichern. Was haben sie zu verlieren, wo Putin doch angeblich vertrauenswürdig sei? Immerhin könnten sie so an die Bodenschätze ran. Selbstverständlich willigt Selenskyj nicht ein. Also stauchen Trump und Vance ihn zusammen, um ihn einzuschüchtern und ihn zur Unterschrift zu nötigen.
Im Rückblick halten viele amerikanische Kommentatoren diese Eskalation für geplant. Anscheinend war die Veranstaltung als amerikanische Machtdemonstration für genau eine Person gedacht, nämlich für Putin. Gemeinsam mit dem Moskauer Staatsfernsehen hatte das Weiße Haus vorausschauend eine Liveschalte aus dem Weißen Haus nach Russland eingerichtet. Kein Wunder, dass Trump sauer ist angesichts seines Scheiterns.
Wie aber ist Trumps Abwendung von der Ukraine hin zu Putin zu erklären? Kommentatoren meinen, Trump sei vom Recht des Stärkeren fasziniert , das Putin vorlebt. Trump wolle vor allem eines: Macht. Zweifellos: Er verachtet Recht und Gesetz, er genießt die unwürdigen Huldigungen seiner Untergebenen, und er möchte seine wirtschaftliche Macht gegenüber der EU ausspielen. Doch zugleich verdunkelt dieser Erklärungsversuch etwas Wesentliches.
Trumps erste Bilanz
Mit Trumps Amtsantritt hat Putin maßgeblichen Einfluss auf die amerikanische Regierung gewonnen. Trumps putinfreundliche Politik lässt sich nicht damit erklären, dass er nach Stärke strebt und an das Recht des Stärkeren glaubt. Dann würde Trump nicht mit zahlreichen prorussischen Maßnahmen in Putins Hintern kriechen – sogar im Bereich der inneren Sicherheit! Gleich am ersten Tag im Amt schafft etwa Trumps Justizministerin Regeln ab, die illegitimen russischen Einfluss in den USA unterbinden. Obwohl Russland seine Cyber-Einsätze gegen die USA intensiviert hat, stoppt Trump jetzt einseitig solche Maßnahmen gegen Russland. Sogar zu Hause, in Nordamerika weicht Trump vor Putin zurück. Das lässt sich gerade nicht damit erklären, dass Trump sich das Recht des Stärkeren herausnimmt.
In Sachen Ukraine wiederum ist Trump geradezu implodiert: Schon bevor die US-russischen Verhandlungen über die Ukraine begonnen haben, hatte er entscheidende Zugeständnisse an Russland gemacht. Im Gegenzug konnte er Russland zu keinerlei Zugeständnissen bewegen. Mit dem Aussetzen der Ukrainehilfen hat Trump dann letzten Montag ohne Not das wichtigste Druckmittel aus der Hand gegeben, das Putin zu einem Waffenstillstand bewegen könnte. Die bisherigen amerikanischen Militärhilfen für die Ukraine haben über 100 Milliarden Dollar gekostet, doch ihr Effekt könnte nun verpuffen. Trump vermehrt nicht seine persönliche oder die amerikanische Macht, sondern die Putins. Möglich, dass Russland bald Kyjiw einnimmt. Hoffen wir, dass die Ukraine mit europäischer Hilfe gegen Russland standhält – auch das scheint militärisch möglich.
Das Rätsel Trump
Trump ist zwar auch von politischer Stärke fasziniert, besonders aber von Putin selbst, dem er sich würdelos andient. Zahlt Putin Schmiergeld an Trump, erpresst er ihn, manipuliert er ihn psychologisch? Hegt Trump eine pathologische Verehrung für Putins Persönlichkeit? Meint Trump, es würde den USA politisch nutzen, sich Putin zu Füßen zu werfen? Die Details von Trumps Beziehung zu Putin bleiben ein Rätsel. Würde Trump nach dem Recht des Stärkeren streben, würde er auch gegenüber Putin Stärke zeigen. Er würde russischem Einfluss in den USA nicht Tür und Tor öffnen und Russland nicht freie Hand in der Ukraine lassen. Das ist kein "Appeasement" des russischen Aggressors mehr, das widerwillig Zugeständnisse macht, sondern vielmehr ein "Alignment": Der russische Regierungssprecher Dimitri Peskov bestätigt, dass sich die amerikanische Außenpolitik die russischen Interessen zu eigen gemacht habe.
Europäische Neuorientierung
Wer in Europa jetzt noch auf Trump baut, macht sich von Putin abhängig. Trumps Kumpanen Musk und Vance untergraben aktiv die Europäische Union, indem sie aktiv Einfluss auf den deutschen Bundestagswahlkampf ausüben. Ohne Not zettelt Trump Handelskriege gegen Kanada, Mexiko und die EU an. Trumps Außenminister versetzt die europäische Außenbeauftragte beim Staatsbesuch in den USA. Bei den UN stimmen die USA mit Nordkorea und Russland.
Angenommen, Russland greift Litauen an, um seinen Zugang zur Ostsee zu konsolidieren: Trump würde sich nicht an die NATO-Bündnisverpflichtungen halten und Europa militärisch verteidigen. Das würde ja Putin nicht gefallen. Der hat wiederum eine Kriegswirtschaft aufgebaut, und innenpolitisch besteht die Legitimation seiner Macht in seiner imperialistischen Ideologie. Putin sucht sein politisches Überleben darin, dass die militärische Ausnahmesituation zum Dauerzustand wird.
Europa muss tun, was in seiner Macht steht, um sich aus der Abhängigkeit von den USA zu lösen. Sofern sie politisch können, müssen die Europäer aufrüsten und gemeinsam mit der Ukraine (und Kanada und anderen) Putin die Stirn bieten. Würden wir uns an das alte Bündnis mit den Amerikanern klammern, statt auf eigenen Beinen zu stehen: Wir wären wie Biedermeier, der die Brandstifter bewirtet, obwohl er ahnt, dass sie anschließend sein Haus anzünden.
Was tun?
Kurz nach Selenskyjs Besuch in Washington hat der CDU-Politiker Ruprecht Polenz (einst Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags) in den sozialen Medien bündig gepostet:
"Was folgt daraus?
1. Deutschland braucht, wie bis 1990: 500.000 Soldaten, Wehrpflicht, 3–4% vom Bruttosozialprodukt für Verteidigung, €200 Milliarden Sondervermögen extra
2. Europäischer Atomschirm
3. Europa muss die amerikanische Ukraine-Hilfe ersetzen und die eigene deutlich verstärken".
Damit sind wichtige Fragen aufgeworfen: Welche praktischen Konsequenzen muss Deutschland daraus ziehen, dass die USA sich auf die Seite Putins schlagen? Im Einzelnen mache ich mir Polenz’ Forderungen nicht zu eigen. Welche Truppenstärke ist für die Bundeswehr tatsächlich sinnvoll? Wie viel Geld muss man nun für die Verteidigung ausgeben? Das kann ich nicht beurteilen. Das sind weniger Fragen für die Ethik als für Militärexpertinnen und -experten und für Politiker:innen.
In der Ethik sind aber die Fragen sinnvoll: Was ist von der Wehrpflicht zu halten? Und wie steht es mit der nuklearen Abschreckung, die die USA bislang im Rahmen der NATO zugunsten von Europa gewährleistet hatten? Ich hatte mich in einer früheren Kolumne gegen eine allgemeine Wehrpflicht ausgesprochen. Im Januar meinte ich außerdem, Europa solle Trump mehr Geld dafür anbieten, dass er die amerikanischen Atomwaffen zur Verteidigung der NATO-Partner bereithält.
Nukleare Abschreckung
Deutlich ist inzwischen, dass der letzte Vorschlag illusorisch ist: Sollte Russland etwa die NATO-Mitglieder Litauen oder Polen überfallen, wird Trump nicht mit amerikanischen Soldaten gegen Russland vorgehen und eine russische Rakete auf Washington, DC, riskieren. Das ergibt sich aus Vance’ Rede in München ("there is nothing America can do for you") und aus dem Debakel im Weißen Haus. Die EU muss Verträge mit Großbritannien und Frankreich schließen, damit sie ihre Nuklearwaffen auch für die Verteidigung der anderen EU-Länder bereithalten. Ob auch darüber hinaus nukleare Aufrüstung gefragt ist, wäre zu diskutieren. Andererseits bedeutet nukleare Aufrüstung ein zusätzliches, ernsthaftes Sicherheitsrisiko, weil es zu einem schneeballartigen, multipolaren Wettrüsten führen kann, in dem wir vollends die Kontrolle verlieren.
Wehrpflicht
Noch angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine hatte ich mich 2023 dagegen ausgesprochen, dass Deutschland eine Wehrpflicht einführt. Die damals anvisierte Truppenstärke der Bundeswehr von etwas über 200.000 Soldatinnen und Soldaten solle man mit einer allgemeinen Musterung anstreben, meinte ich, aber auf Freiwilligkeit statt Dienstpflicht setzen. Eine Wehrpflicht dagegen sei ein gravierender Eingriff in die Grundrechte, auch dann, wenn man einen zivilen Ersatzdienst ermöglicht, wie es ja nötig wäre. Demgegenüber schien mir – während Joe Bidens Präsidentschaft – die sicherheitspolitische Dringlichkeit nicht hoch genug.
Andererseits dürfte heute eine Truppenstärke von gut 200.000 Soldaten nicht mehr ausreichend sein, und nicht einmal dieser Marke erreichen wir heute. Ein militärischer Erfolg Russlands in der Ukraine ist jetzt wahrscheinlicher als vor eineinhalb Jahren. Kommt es nicht dazu, werden Bundeswehrsoldaten möglicherweise als Peacekeepers in der Ukraine benötigt, gemeinsam mit Briten und Franzosen. So oder so können wir aber nicht mehr mit der militärischen Unterstützung der USA rechnen.
Ich selbst habe weder Wehr- noch Zivildienst geleistet, doch könnte auch mein Kind von einer Wehrpflicht betroffen sein. Andererseits wird die russische Aggression auch Deutschland bedrohen, wenn man sich ihr nicht entschieden entgegenstellt. Russland hat ja bereits Terrorakte auf deutschem Boden verübt, wird das vermutlich wiederholen und wendet weiterhin Methoden der hybriden Kriegsführung gegen Deutschland an. Als naheliegende Opfer eines militärischen Angriffs Russlands werden neben Moldawien besonders Litauen und das Baltikum sowie Polen genannt. Putin könnte Deutschland beispielsweise zum russischen Satellitenstaat machen oder es gleich annektieren. Wenn Europa in dieser Bedrohung nicht zusammenhält, wird das europäische Projekt untergehen. In den USA sagte man einst: Entweder, wir hängen *zusammen*, oder wir *hängen* zusammen. Das mag noch etwas pathetisch klingen, aber Deutschland muss dazu beitragen, dass Europa geschlossen und wehrhaft Frieden, Freiheit und Demokratie sichert. Dem kann meiner Meinung nach auch ein christlich motivierter, kategorischer Pazifismus schlecht widersprechen. In der gewandelten Situation spricht vieles für die Wehrpflicht. Das sollten wir als Gesellschaft offen diskutieren! Was wir dagegen nicht mehr diskutieren können, ist die Frage, ob die Bundeswehr "kriegstüchtig" sein soll oder nicht.