Für Frieden Minderheiten integrieren

Ruinen des Friedhofs im Stadtteil Dschubar in Damaskus
Sebastian Gollnow/dpa
Die Sonne scheint im Stadtteil Dschubar auf die Ruinen des Friedhofs. Das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen und Kulturen könnte die Situation in Syrien stabilisieren.
Politologe zur Lage in Syrien
Für Frieden Minderheiten integrieren
Nach dem Sturz Assads bleibt offen, ob die neue Regierung in der Lage sein wird, die tiefgreifende gesellschaftliche Vielfalt des Landes zu integrieren. Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger, der sich seit Jahren mit den politischen Dynamiken der Region auseinandersetzt, betont im Gespräch mit evangelisch.de Mitarbeiter Elias Feroz, dass ohne die Einbeziehung von Minderheiten wie Kurden, Christen, Drusen und Alawiten eine stabile Regierung und ein nachhaltiger Frieden scheitern könnten. Das könnte zu einer Fortsetzung der bewaffneten Konflikte führen.

evangelisch.de: Herr Schmidinger, Sie sind Politikwissenschafter, Sozial- und Kulturanthropologe und Mitglied des Forschungszentrums Religion and Transformation in Contemporary Society. Außerdem sind Sie Associate Professor an der University of Kurdistan Hawler im irakisch-kurdischen Erbil und lehren an der FH Oberösterreich und an der Uni Wien. Wie beurteilen Sie die derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Dynamiken in Syrien nach dem Sturz von Assad, und welche Akteure spielen Ihrer Meinung nach eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Zukunft des Landes?

Thomas Schmidinger: Die ehemals zur al-Qaida gehörige Hayat Tahrir ash-Sham, spielt sicher eine sehr entscheidende politische und militärische Rolle, ist aber keinesfalls der einzige Akteur. Weder hat Hayat Tahrir ash-Sham die Hauptstadt Damaskus eingenommen – diese wurde von Milizen aus dem Süden und der lokalen Bevölkerung befreit – noch hat sie die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung.

Das Problem ist, dass die demokratische Opposition und die religiösen und ethnischen Minderheiten schlechter organisiert sind und Hayat Tahrir ash-Sham gemeinsam mit den türkischen Söldnermilizen der so genannten Syrischen Nationalarmee (SNA) die Unterstützung der Türkei hat. 

Thomas Schmidinger beschäftigt sich sein Jahren mit den Konflikten und Vorgängen rund um die Region in Syrien.

Der stärkste Rivale dieser beiden islamistischen Milizen ist mit Sicherheit das von den Kurden geführte Militärbündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), das fast ein Drittel des Landes im Nordosten kontrolliert und neben den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ auch christliche und arabische Einheiten umfasst. Im Osten gibt es zudem auch noch als säkularer Rest der alten "Freien Syrischen Armee" die so genannte "Revolutionäre Kommandoarmee" und im Süden ein Bündnis verschiedener mehr oder weniger säkularer Milizen, die von gemäßigten Sunniten bis zu verschiedenen Drusen reichen. Politisch werden aber auch andere Kräfte eine Rolle spielen, die nicht bewaffnet waren, sich aber nun politisch reorganisieren. So waren unter den Alawiten etwa neben dem Regime selbst v.a. linke Oppositionsgruppen immer wieder stark vertreten. Es wird abzuwarten sein, ob diese sich nun reorganisieren können.

Inwiefern sehen Sie die aktuelle Hoffnung vieler Syrerinnen und Syrer als berechtigt an, und welche realistischen Perspektiven, gibt es für die nahe Zukunft? 

Schmidinger: Einerseits gibt das konkrete Verhalten der neuen Regierung gegenüber den Minderheiten eher Anlass zur Hoffnung, andererseits wurde von Ahmed al-Sharaa/al-Jolani eine Übergangsregierung eingesetzt, die ausschließlich aus sunnitischen Männern mit Bezug zur Hayat Tahrir ash-Sham bestehen. Es wurden weder die Kurden, noch andere Minderheiten, noch die Frauen bislang integriert. Von der Inklusion der Minderheiten wird aber zentral abhängen, ob das eine stabile Regierung wird, die den Krieg beenden kann oder ob der Krieg dann noch in eine zweite Runde geht.

 "Es wurden weder die Kurden, noch andere Minderheiten, noch die Frauen bislang integriert."

Angesichts der früheren Verbindungen von al-Jolani und HTS zu al-Qaida: Wie glaubwürdig sind ihre Behauptungen, sich von Extremismus losgesagt zu haben und nun für Pluralismus und Toleranz einzutreten, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Einstufung als terroristische Organisation durch die USA?

Ahmed al-Sharaa, der sich als HTS-Führer Al-Jolani genannt hatte, hat sich nie von der Ideologie der al-Qaida losgesagt, allerdings hat er sich strategisch umorientiert. Er hat sich gewissermaßen als syrischer Nationalist neu erfunden, der aber über weite Strecken weiterhin das Gesellschaftsmodell des Jihadismus teilt. Sein Modell orientiert sich heute stärker an dem der Taliban als dem des globalen Jihadismus, was auch damit zu tun hat, dass das das erfolgreichere Modell ist. Man könnte das zusammenfassen als Emirat statt Khalifat, also eine territorial beschränkte Herrschaft ohne Terror im Westen und globale Ziele. Ob das so durchsetzbar ist, ist eine andere Frage.

Syrien hat eine sehr diverse Bevölkerung und auch die Mehrheit der sunnitischen Muslime teilen nicht unbedingt das Modell, das der HTS vorschwebt. Wenn die neue Herrschaft also stabil werden soll, wird er Kompromisse eingehen müssen. Eine Alleinherrschaft der HTS ist derzeit unvorstellbar. Das würde eine Fortsetzung des Krieges bedeuten.

Wie schätzen Sie die möglichen Konsequenzen der neuen Übergangsregierung unter Premierminister al-Bashir für die kulturelle und religiöse Vielfalt Syriens ein, wie beispielsweise für die christliche Gemeinde des Landes?

Schmidinger: Bis jetzt verhält sich die Regierung gegenüber den Minderheiten weitgehend korrekt und hat diese vor Gewalt geschützt. Einzelne Racheakte an Alawiten – jener Religionsgemeinschaft, der die Familie Assad angehört hat – gehen nicht auf das Konto der Regierung, sondern v.a. auf die Tanzim Hurras ad-Din, das ist eine Gruppe, die sich 2018 von der HTS abgespalten und wieder der al-Qaida angeschlossen hatte.

Christ:innen konnten Weihnachten feiern

Die Christen haben völlig ungehindert Weihnachten feiern können und die Botschaften der Regierung sind eindeutig pro-Diversität. Dass die Regierung selbst diese Diversität nicht widerspiegelt und dass dieselben Leute, als sie noch in Idlib regierten, anders agierten, gibt aber Anlass zur Sorge. Viele Drusen, Alawiten und Christen fürchten, dass diese Toleranz nur eine Taktik darstellen könnte, bis sich die Macht der neuen Regierung gefestigt hat.

Nach dem sogenannten 'arabischen Frühling' kam es in keinem arabischen Land zu einer echten Demokratisierung. Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Syrien in naher Zukunft einen demokratischen Wandel erleben wird, insbesondere im Kontext der aktuellen politischen Entwicklungen?

Schmidinger: Das liegt nicht nur an den neuen Machthabern und deren Kompromissbereitschaft, sondern auch an der Frage, ob es gelingt die Türkei einzudämmen, die ja immer noch größere Gebiete im Norden des Landes besetzt hält und von dort aus Krieg gegen die SDF führt. Ich bin davon überzeugt, dass große Teile der syrischen Bevölkerung eine demokratische Entwicklung will, aber derzeit sind die bewaffneten Milizen immer noch mächtiger als politische Parteien. Umgekehrt ist das Land aber so divers, dass es eine friedliche Entwicklung nur unter Einbeziehung aller Gruppen geben kann und bedeutet zumindest eine Anerkennung eines gewissen gesellschaftlichen Pluralismus. Eine föderale Demokratie wäre hier wohl ein taugliches Modell dafür. Die andere Alternative wäre aber wohl eine Fortsetzung bewaffneter Konflikte.

Angesichts des zunehmenden Rechtsrucks in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern sowie der politischen Forderungen, Flüchtlinge – wie bereits vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Sturz von Assad angekündigt – in ihre Heimat abschieben zu wollen, wie bewerten Sie die Auswirkungen dieser Haltung auf die syrischen Flüchtlinge und ihre Perspektiven in Europa im Kontext der neuen politischen Lage in Syrien?

Schmidinger: Für solche Debatten ist es auf jeden Fall viel zu früh. Noch wird in Syrien Krieg geführt, und zwar im Norden zwischen Türkei und SNA auf der einen und SDF auf der anderen Seite und auch im Rest des Landes sind wir noch weit von einer Demokratie entfernt. Wenn sich alles stabilisiert, gibt es sicher Syrerinnen und Syrer, die auch freiwillig zurückkehren wollen. Es hängt aber immer davon ab, warum man geflohen ist. Wer nur von Assad und dem Krieg geflohen ist, überlegt vielleicht eine Rückkehr, aber wer z.B. aufgrund seiner sexuellen Orientierung geflohen ist, wird in einem Jahr kaum auf einer Damaskus Pride mitmarschieren können.

Was europäische Staaten tun könnten, ist, dass sie freiwillige Rückkehrer unterstützen. Das könnte man auch dadurch, dass man ihnen nicht sofort den Status aberkennt, wenn sie probeweise zurückkehren, sondern ihnen wieder eine Rückkehr nach Europa ermöglicht, wenn sich Syrien doch nicht so positiv entwickelt, wie erhofft. In der jetzigen Situation Leute abzuschieben, halte ich hingegen für völlig fahrlässig.