"Nur über meine Leiche": In einer schwarzen Krimikomödie wären dies wohl die letzten Worte des Mannes, zumal er ein ausgesprochen unsympathischer Arroganzling ist, der seine Frau klein hält und sich darüber mokiert, dass sein Sohn "unter Niveau" heiraten will. All’ das wird in dieser vierten Episode von "Anna und ihr Untermieter" jedoch erst in einer langen Rückblende nachgereicht.
Die Drohung ist also tatsächlich der letzte Satz von Horst Schulte-Bräucker, wenn auch nur vorerst, aber weil sich "Plötzlich Schwiegermutter" im Verlauf der nächsten Stunde als Sozialkomödie entpuppt, kriegt er schließlich trotzdem seine Lektion; selbstverständlich gewaltlos.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Anfangs funktionierte die 2020 gestartete ARD-Freitagsreihe "Anna und ihr Untermieter" nach einem einfachen Muster: Die schon vor geraumer Zeit vom Gatten sitzengelassene Rentnerin Anna Welsendorf (Katerina Jacob) vermietet das einstige Kinderzimmer ihrer Wohnung an den Witwer Werner Kurtz (Ernst Stötzner). Der Mann war früher Leiter des Ordnungsamts Köln-Süd und ist als Eigenbrötler mit konservativen Prinzipien das Gegenteil der allseits beliebten ehemaligen Verkäuferin, die ehrenamtlich für die Telefonseelsorge arbeitet.
Natürlich beziehen die Geschichten ihren Reiz auch aus dem unausgesprochenen Versprechen, die Gegensätze könnten sich anziehen. Tatsächlich ist es im Verlauf der weiteren Filme zu einer gewissen Annäherung gekommen. Das Paar ist jedoch nach wie vor per Sie, selbst wenn Kurtz seiner Vermieterin diesmal einen Antrag macht; allerdings nur aus finanziellen Gründen, weil er sich darüber ärgert, dass er seine Pension versteuern muss.
Anna weist das Ansinnen empört zurück: "Heiraten ist für immer", das sei "die größte und tiefste Entscheidung, die zwei Menschen treffen können."
Reihenschöpfer Martin Rauhaus hatte aber offenkundig mehr als bloß heitere Seniorenkomödien im Sinn, wie die Fortsetzungen zeigten: In der zweiten Episode ("Dicke Luft", Gaststar: Armin Rohde, 2022) ging es um Armut im Alter, in der dritten ("Wenn du träumst von der Liebe" mit Richy Müller, 2023) um Einsamkeit. Das Thema von "Plötzlich Schwiegermutter" scheint zwar auf den ersten Blick nicht ganz diese Relevanz zu haben, doch dafür steht diesmal das familiäre Wohl auf dem Spiel: Tochter Karin (Katharina Schlothauer) überrascht Anna mit der Nachricht, dass sie heiraten will.
Sie kennt den Arzt Jens Schulte-Bräucker (Golo Euler) bereits seit einem halben Jahr, hat ihn der Mutter bislang aber aus gutem Grund vorenthalten: Anna neigt zu einer gewissen Übergriffigkeit und pflegt sich umgehend einzumischen, wenn sie glaubt, dass Mitmenschen in ihr Unglück rennen. Um mehr über Jens in Erfahrung zu bringen, schickt sie Kurtz als "Undercover-Agent" in die Praxis.
Jens ist zwar Kinderarzt, aber der Pensionär ist eine Respektsperson, die sich nicht so leicht abwimmeln lässt. Der Zukünftige erweist sich als ausgesprochen sympathischer Zeitgenosse, der Karin aufrichtig liebt und auch ihre Tochter ins Herz geschlossen hat. Das Blatt wendet sich, als Anna und Kurtz in sein Elternhaus eingeladen werden, um Karins angehende Schwiegereltern Horst und Regine (Herbert Knaup, Anke Sevenich kennenzulernen.
Schon früh deutet Rauhaus an, worum es ihm eigentlich geht, als sich eine Frau am Sorgentelefon über die "milde Verachtung" ihres Mannes beklagt. Die Schilderungen wecken prompt Annas Unmut, sie spricht von psychischer Gewalt und emotionalem Missbrauch. Beim Besuch der protzigen Villa des Ehepaars ahnt sie angesichts des herablassenden Verhaltens von Horst, als Leiter einer Klinik sehr vermögend, dass die Anruferin Regine war.
Irgendwann lässt der Patriarch die joviale Maske fallen und seinem Standesdünkel gegenüber der früheren Verkäuferin freien Lauf; Karin, kaufmännische Angestellte, ist in seinen Augen bloß eine "Tippse". Die empörte Anna hat keinerlei Verständnis dafür, dass nicht nur Regine, sondern auch Jens und Karin den überheblichen Horst in Schutz nehmen. Der Sohn gilt als designierter Nachfolger seines Vaters, deshalb will Anna um jeden Preis verhindern, dass ihre Tochter zur gleichen "grauen Maus" an der Seite eines erfolgreichen Mannes mutiert wie Regine.
Für die zwar solide, aber abgesehen von viel Dunst in der Luft bei den Innenaufnahmen weitgehend unauffällige Umsetzung sorgte Dagmar Seume, sie hat auch die letzte Episode inszeniert. Der Film lebt allerdings nahezu ausschließlich vom ausnahmslos guten Ensemble und den wie stets famosen Dialogen; in dieser Hinsicht ist Rauhaus hierzulande nahezu unerreicht.