Die Gleise. Das Torhaus. Der Schriftzug "Arbeit macht frei". Sie sind zum Symbol des totalen Vernichtungswillens geworden. Zum Sinnbild des Bösen schlechthin. Als die Rote Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 erreichte, lebten noch zwischen 7.000 und 8.000 Insassen des Vernichtungslagers. Mindestens 1,1 Millionen Menschen waren dort zwischen 1940 und 1945 ermordet worden: Juden, Roma, Homosexuelle, Kranke und Andersdenkende. Regisseur dieses monströsen Massenmordes war Rudolf Höß, SS-Obersturmbannführer aus Baden-Baden.
Kai Uwe Höss ist sein Enkel und lebt heute in Stuttgart. "Mein Großvater war der größte Massenmörder aller Zeiten", sagt er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er spricht ruhig und überlegt. Fassungslos macht ihn einerseits die Perfektion und Akribie, mit der sein Großvater vorging. So habe der sich ein Kennzeichnungssystem für die Häftlinge ausgedacht, das es in keinem anderen KZ gab: Statt den Deportierten Nummern an die Kleidung zu heften, ließ er sie Neuankömmlingen in den Arm tätowieren.
Auf der anderen Seite seien da die Erzählungen seines eigenen Vaters Hans-Jürgen, dem zweitjüngsten der fünf Höß-Kinder, der seinen Vater Rudolf Höß stets als fürsorglich und liebevoll beschrieben habe. Kai Uwe Höss erzählt von dem unterirdischen Gang, der von der Dienstvilla in Auschwitz direkt ins Lager führte: "Wenn er dort durchging, wandelte er sich vom liebevollen Familienvater zum pflichtbewussten Massenmörder."
Kai Uwe Höss ist 62. Seinen Großvater, der 1947 zum Tode verurteilt und gehängt wurde, kennt er nur aus dessen Tagebuchaufzeichnungen und den Erzählungen seines Vaters. Anders seine Großmutter Hedwig, Ehefrau von Rudolf Höß. Sie erlebten der kleine Kai Uwe und sein jüngerer Bruder Rainer immer wieder. Zwar habe sie nur sehr selten von früher erzählt, erinnert sich der Enkel.
Auf ihrem Grabstein steht kein Name. Nur "Mutti"
Aber wenn sie davon gesprochen habe, sei deutlich geworden, dass sie den Sozialdarwinismus, auf den sich die Nationalsozialisten beriefen, nach wie vor befürwortete: "In ihrer Weltsicht kamen nur die Stärksten durch." Sie sei bis zum Ende ihres Lebens in diesem System gefangen gewesen. Hedwig Höß starb 1989 bei einem Besuch ihrer Tochter Ingebrigitt in den USA. Sie ist in Arlington begraben. Auf ihrem Grabstein steht kein Name. Nur "Mutti".
Auch im Elternhaus im württembergischen Walheim bei Ludwigsburg, wo Kai Uwe Höss aufwuchs, wurde nur selten über die Vergangenheit gesprochen. Und trotzdem sei das familiäre Erbe auch für Kai Uwe Höss stets gegenwärtig gewesen - allein schon wegen des Namens. "Wer will schon mit Rudolf Höß verwandt sein?", fragt er.
Die Schreibweise seines Namens änderte er später wegen der zahlreichen beruflichen Stationen im Ausland, wo man kein "ß" kannte. "Spätestens wenn in der Schule der Nationalsozialismus behandelt wird, wird man auf den Namen angesprochen", erzählt er. Das sei selbst seinen vier Kindern noch so gegangen.
Kai Uwe Höss wollte dieser Enge entfliehen. Nach der Schule ließ er sich zunächst zum Koch ausbilden, ging mit der Bundeswehr nach Großbritannien, studierte Hotelmanagement - und machte Karriere. Er arbeitete als Manager für internationale Fünf-Sterne-Häuser in Macao und Hongkong, Kairo und Dubai, Singapur, Thailand und Bali - wo er auch seine Frau Rahma kennenlernte.
"Mein Lebensmotto lautete: work hard, play hard", erinnert er sich. Und wenn er davon erzählt, ahnt man, wie er es einst hat krachen lassen. "Damals war ich ziemlich arrogant und selbstverliebt." In seiner knapp bemessenen Freizeit feierte er Partys und genoss das Leben auf der Überholspur. "Aber ich fühlte mich innerlich leer."
Nach einer missglückten Operation wandte er sich dem christlichen Glauben zu. "Ich erinnerte mich an viele der biblischen Geschichten, die uns unsere sehr gläubige Urgroßmutter als Kinder erzählt hatte", so Höss. Schließlich kehrte er dem Hotelmanagement den Rücken und widmete sich vollzeitlich der Verkündigung der christlichen Botschaft. 2003 gründete er zusammen mit anderen Christen die freikirchliche "Bible Church Stuttgart - Bibelgemeinde Stuttgart".
Kai Uwe Höss wirkt im Reinen mit sich und der Welt - wenngleich sein Name wohl immer eine Hypothek bleiben wird. Der Familienvater hat sich ausgiebig mit einem Vers aus dem Alten Testament beschäftigt. Dort heißt es, dass Gott "die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied" heimsuchen wird (4. Mose 14,18). Das beträfe auch noch seine Kinder und deren dereinstige Kinder. "Aber Jesus kann jeden Fluch brechen", sagt der Enkel des Auschwitz-Kommandanten.