Ganz gleich, ob Drama, Krimi oder Komödie: Filme funktionieren im Wechselspiel aus Anspannung und Entspannung; es sei denn, es handelt sich um einen Hochspannungs-Thriller. Also haben Katharina Adler und Rudi Gaul das ungeschriebene Gesetz ignoriert und auf diese Weise mit ihrem Drehbuch zu "Verblendung" für neunzig Minuten Nervenkitzel gesorgt. Schon die Ausgangslage ist brisant: Ein rechtsterroristisches Paar unterbricht eine Stuttgarter Filmpremiere mit hochrangigen Gästen, um zwei inhaftierte Gesinnungsgenossen freizupressen.
Außerdem soll der baden-württembergische Innenminister gestehen, dass der Staat systematisch Feinde des Systems aus dem Weg räumt. Erst kürzlich ist ein potenzieller Gewalttäter, der mit den beiden anderen einen Anschlag auf den Landtag geplant hatte, im Gefängnis gestorben; offizielle Todesursache war ein allergischer Schock. Werden die Forderungen nicht erfüllt, muss eine Geisel nach der anderen sterben. Um zu unterstreichen, dass sie nicht blufft, erschießt die Terroristin vor laufender Smartphone-Kamera den Polizeipräsidenten.
Für eine deutsche TV-Produktion ist das ein mehr als heikler Stoff, denn die Verschwörungserzählung der Terroristen, in der auch von "Umvolkung" und "Kampf den Globalisten" (eine Umschreibung für Antisemitismus) die Rede ist, dürfte der Denkweise all’ jener Menschen entsprechen, die gegenüber Staat und Medien ohnehin in höchstem Maße skeptisch sind. In erster Linie ist dieser "Tatort" jedoch ein ungemein fesselnder Film. Dabei schöpft Gaul als Regisseur gar nicht mal sämtliche Möglichkeiten aus. Der Schnitt ist nicht hektisch, die Musik treibt die Spannung nicht auf die Spitze; abgesehen von einem gelegentlich geteilten Bildschirm ist die optische Umsetzung vergleichsweise unauffällig.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Verblendung" ist ohnehin größtenteils ein Kammerspiel: Die wichtigsten Schauplätze sind das Kino sowie ein benachbartes leerstehendes Gebäude, in dem sich die Einsatzleitung eingerichtet hat. Eine dritte Ebene, als Lannert (Richy Müller) in Stammheim mit den beiden Häftlingen spricht, besteht ebenfalls nur aus Innenaufnahmen. Der Hauptkommissar will mit Unterstützung von Rechtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) die Umstände klären, die zum Tod des Rechtsextremisten geführt haben, und stößt dabei tatsächlich auf ein Komplott.
Dass sich die Dinge allerdings ganz anders zugetragen haben, als Terroristin Urbanski (Anna Schimrigk) glaubt, entdeckt Lannert im Lied eines von ihr bewunderten rechten Musikers: "Das perfekte Opfer einer Verschwörung plant die Verschwörung selbst." Obwohl die Handlung größtenteils aus Dialogszenen besteht, ist der Krimi dank einer im Grunde simplen Idee dennoch hochdramatisch und äußerst intensiv: Zum Auftakt schaut Sebastian Bootz (Felix Klare) in die Mündung einer Pistole; Lannerts Freund und Partner ist ebenfalls unter den Geiseln.
Nach dem üblichen Thriller-Schema bricht der Prolog mit dem Satz "Die Zeit ist um" ab; zu hören ist noch ein Schuss, dann folgen der blutrote Vorspann und eine lange Rückblende ("9 Stunden zuvor"); der Kreis schließt sich erst wieder unmittelbar vorm fast zu kurzen Finale. Bis dahin sammelt Lannert Hintergrundinformationen über die Terrorzelle und tut gleichzeitig alles, um auf Zeit zu spielen, während ein Sondereinsatzkommando einen alternativen Zugang sucht. Am Eingang zum Kinosaal hat die Terroristin Sprengstoff angebracht. Ihr Partner (Christoph Franken), von Bootz gleich zu Beginn durch einen Schuss in den Bauch schwer verletzt, verblutet derweil vor sich hin.
Adler und Gaul haben für das Duo aus Stuttgart bereits die 2023 ausgestrahlten ähnlich sehenswerten Krimis "Videobeweis" (über einen Mord- und "MeToo"-Fall in einem Versicherungsunternehmen) und "Vergebung" (mit dem Rechtsmediziner als Hauptfigur) geschrieben. Die gleichfalls von Gaul umgesetzten Geschichten waren ebenfalls komplex, aber "Verblendung" ist noch mal umfassender, zumal zwischen den Geiseln eine fatale Gruppendynamik entsteht: Um die Untauglichkeit demokratischer Prozesse zu beweisen, lässt Urbanski die Menschen abstimmen, wer das nächste Opfer sein soll.
Unter den Anwesenden, die auf Einladung des Bildungswerks der Landesregierung eigentlich einen Film über die Geburtsstunde der deutschen Demokratie anschauen wollten, sind auch ein Staatssekretär, ein rechtspopulistischer Landtagsabgeordneter und sowie eine TV-Journalistin, die sich regelmäßig kritisch mit der Polizei befasst und nun ganz froh ist, Bootz an ihrer Seite zu wissen. Eine verblüffende Schlusspointe bildet den krönenden Abschluss dieses außergewöhnlichen "Tatorts".