TV-Tipp: "Tatort: Der Stelzenmann"

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1. Januar, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Der Stelzenmann"
Das Jahr beginnt spannend: Dieser Tatort ist eine Hommage an vergangene Thriller-Klassiker und treibt die Spannung auf die Spitze.

Albtraumhafte Ausgeburten filmischer Fantasien wie Freddy Krueger oder Michael Myers treiben ihr Unwesen in Reihen wie "Nightmare on Elm Street" und "Halloween" aus reiner Lust am Töten: Beide verkörpern das absolute Böse. In den meisten anderen Geschichten über Serienkiller haben die Taten ihren Ursprung in traumatischen Kindheitserlebnissen: Die Täter von heute waren einst selber Opfer. Dass die Mörder durchweg Männer sind, ist statistisch korrekt, dient den Drehbüchern aber in vielen Filmen als Anlass, herrschsüchtige Mütter zur Wurzel des Übels zu machen: weil sie einst den furchtbaren Keim für die spätere Mordlust gelegt haben; eine grausige Erklärung für die tief verwurzelte Misogynie vieler westlicher Gesellschaften. Alfred Hitchcocks Klassiker "Psycho" (1960) ist der Prototyp dieses Genres, dem Harald Göckeritz mit seinem Drehbuch zu diesem "Tatort" aus Ludwigshafen eine grimmige Facette hinzufügt. Schon der rätselhafte Titel ist clever, und sollte es immer noch Mütter oder Großmütter geben, die ungehorsamen Jungen und Mädchen mit Kinderschreckfiguren Angst einjagen, so wird sie "Der Stelzenmann" hoffentlich eines Besseren belehren.

Nach einem zweifachen Prolog, dessen Sinn sich erst später erschließt, beginnt die eigentliche Filmhandlung mit einer Entführung: Ein Junge wird am helllichten Tag in ein Auto gezerrt. Als eine alte Frau die Polizei anrufen will, wendet der Wagen; sie wird später ihren Verletzungen erliegen. Bei den Eltern des kleinen Paul ist nicht viel zu holen, deshalb stellt die Polizei die geforderten 100.000 Euro zu Verfügung, um den Kidnapper zu schnappen, wenn er das Geld abholt. Die Forderung entpuppt sich jedoch als Finte, und diese Erkenntnis ist ein weiterer Schock: Dass es dem Täter offenbar nicht um Geld geht, weckt die schlimmsten Befürchtungen. 

Bis zu diesem Zeitpunkt klingt der Krimi nach einem handelsüblichen Thriller: Für die Kommissarinnen Odenthal und Stern (Ulrike Folkerts, Lisa Bitter) wird der Fall ein Wettlauf mit der Zeit, denn mit jedem Tag, der vergeht, sinken erfahrungsgemäß die Chancen, dass der Junge überlebt. Dann führt Göckeritz jedoch eine Figur ein, die die Geschichte in eine völlig neue Richtung lenkt: Stern entdeckt, dass vor zehn Jahren ein ganz ähnliches Verbrechen begangen worden ist. Auch damals gab es eine fingierte Lösegeldforderung. Das entführte Kind ist nach elf Wochen freigelassen worden, und natürlich erhoffen sich die Ermittlerinnen vom mittlerweile achtzehnjährigen Swen (Samuel Benito) Hinweise, die ihnen helfen können, aber der erweist sich zunächst als gänzlich unkooperativ. 

Swen ist neben dem Täter, dessen Identität Göckeritz noch in der ersten Filmhälfte preisgibt, die interessanteste Figur des Films, beide sind auf unterschiedliche Weise krank in der Seele. Mehrere Szenen verdeutlichen, welches Unwesen die Dämonen der Vergangenheit treiben, wenn sie nicht gestellt werden: Der junge Mann hat die Therapie allzu früh abgebrochen und wird bis heute immer wieder von paranoiden Wahnvorstellungen gepackt, wenn beispielsweise ein Geruch die Erinnerung an die Wochen im Verlies triggert. Weil sich Miguel Alexandres Inszenierung gerade auch dank der Thriller-Musik (Tom Bellis, Dave Alex) ohnehin auf einem durchgehend hohen Spannungsniveau bewegt, kann es sich der Film leisten, einen Schlüsselmoment fast beiläufig einzustreuen, als sich rausstellt, dass Swens Verfolgungswahn weit mehr als bloß ein Hirngespinst ist. Regisseur und Autor arbeiten seit Jahrzehnten regelmäßig zusammen, 2005 sind beide für "Grüße aus Kaschmir" mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden; das Bild des gruseligen Stelzenmanns ist eine düstere Kindheitserinnerung Alexandres. 

Dazu passt auch die Atmosphäre des Films. Die Welt von Swen, der in einer Buchhandlung arbeitet, besteht überwiegend aus dunklen Brauntönen. Die Stimmung im Revier ist optisch nicht viel besser, zwischenmenschlich aber schon. Göckeritz greift drei Figuren auf, die Martin Eigler im letzten Krimi eingeführt hat, als sich Lena Odenthal den inquisitorischen Fragen eines internen Ermittlers stellen musste ("Dein gutes Recht", 2024). Ausgerechnet dieser Kollege (Bernd Hölscher) leitet nun die Soko, und siehe da: Der Mann kann auch nett sein. Das gilt erst recht für die beiden "Neuen" im Revier, die zunächst um die vakante Assistenzstelle konkurrieren, sich dann aber prima verstehen. Die Rollen sind auch dank der Besetzung reizvoll, weil Johannes Scheidweiler und Davina Fox, die als Pfälzerin für Lokalkolorit sorgt, kaum unterschiedlicher sein könnten.