An einen Einsatz im Mittelmeer wird sich Julia Leithäuser immer erinnern. "Eine ganz, ganz kritische Rettung", sagt die Referentin von SOS Méditerranée im Rückblick über den 13. März. "Damals konnten lediglich 25 von 80 Menschen von einem Boot gerettet werden, das eine Woche lang auf dem Meer getrieben war", beschreibt sie mit stockender Stimme. "Alle anderen sind ertrunken." Wie viele andere weitere Menschen in diesem Jahr: Das UN-Projekt "Missing Migrants" zählte bis Mitte Dezember mehr als 2.200 Tote und Vermisste im Mittelmeer. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Im Sommer war die Marke von 30.000 Ertrunkenen und Vermissten seit 2014 überschritten worden. Auch wenn das Sterben weitergeht, werde das Thema gefährlich nahe an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit gedrängt, sagt Leithäuser, die an Bord der "Ocean Viking" Einsätze miterlebt und Schicksale kennengelernt hat. "Das Mittelmeer und die Menschen, die dort gerettet werden müssen, dürfen nicht in Vergessenheit geraten", mahnt sie.
Das Mittelmeer zählt zu den gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Trotzdem riskieren viele die Überfahrt in überladenen, untauglichen Booten, da die Hoffnung auf Sicherheit und ein besseres Leben größer ist, als die Gefahren auf dem Weg erscheinen. Die Menschen wollen Gewalt und Terror, Armut und Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern entfliehen. Insgesamt wurden in diesem Jahr laut UN-Angaben rund 142.000 Mittelmeerüberquerungen registriert. Das waren deutlich weniger als 2023: Im vergangenen Jahr waren es nahezu doppelt so viele.
Das liegt nach Einschätzung von Seenotrettungsorganisationen jedoch nicht zwangsläufig an weniger Fluchtentscheidungen. Geflüchtete wählen teils andere Routen, andere werden vor oder bei der Überfahrt gestoppt. Mit Tunesien, von wo aus viele Flüchtende in See stechen, unterzeichnete die EU 2023 dazu ein Migrationsabkommen. Ein weiteres folgte in diesem Jahr mit Ägypten. Gegen Finanzhilfen bekommt die EU Zusagen, dass die Partnerländer Fluchtmöglichkeiten Richtung Europa beschneiden.
Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen
Menschenrechtler prangern jedoch immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen dabei an. Sowohl Tunesien als auch dem Nachbarland Libyen wird vorgeworfen, Migranten und Flüchtlinge unrechtmäßig zurückzudrängen und teils sogar in der Wüste auszusetzen. Von der libyschen Küstenwache werden regelmäßig gewaltsame Einsätze beim Abfangen von Booten bekannt. Die Seenotrettungsorganisation SOS Humanity spricht von fast 21.000 Flüchtenden, die von den libyschen Einsatzkräften auf See abgefangen und "in den Kreislauf von Ausbeutung und Gewalt" nach Libyen zurück gezwungen worden seien.
Wer schließlich die Küste hinter sich lässt und sich auf den gefährlichen Weg übers Meer macht, hat keinerlei Auffangnetz. Lediglich private, vorwiegend von Spenden finanzierte Initiativen halten nach Geflüchteten in Not Ausschau. Die Seenotrettungsorganisation SOS Humanity führt in ihrem Jahresrückblick die Zahl von mehr als 12.000 Menschen auf, die 2024 durch zivile Schiffe aus Seenot gerettet wurden. Davon seien 1.822 Geflüchtete allein von der Crew der "Humanity 1" an Bord geholt worden.
Mit dem Fehlen einer staatlichen Rettung entziehe sich Europa seiner Verantwortung, kritisieren die Organisationen. Und sie beklagen Hürden, die ihnen in den Weg gelegt werden. Sea-Watch-Sprecher Oliver Kulikowski verweist etwa auf politisches Taktieren der italienischen Regierung, das die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen behindert. Dazu zählt die Zuweisung weit entfernter Häfen für die Anlandung Geretteter.
Ein Rettungsschiff müsse dann oft bis nach Norditalien fahren, statt in Süditalien anzulegen, sagt Kulikowski. Und das dauere Tage. Das Schiff verliere so viel Zeit für weitere Rettungen. Wegen des Vorgehens italienischer Behörden stellte "Ärzte ohne Grenzen" deshalb jüngst den Betrieb des größten Rettungsschiffs im Mittelmeer, der "Geo Barents", ein. Chris Melzer vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR fordert sichere Zugangswege für Asylsuchende, um das Sterben zu stoppen. "Menschen lässt man nicht ertrinken, egal wen, wo und warum!"