Rund 32.000 Menschen sind im Signal-Iduna-Park in Dortmund unmittelbar dabei, weitere 5.000 hören und sehen die Predigt von Sandra Bils über einen Bildschirm im Westfalenpark. Sie alle sind heute Zeitzeug:innen eines Wendepunkts in der kirchlichen Debatte um Seenotrettung und Migration.
Sandra Bils stammt von der stürmischen Nordsee. Menschen von dort sagt man nach, sie hielten starken Gegenwind aus und sagen gerne kurz und knapp, was Sache ist. Vielleicht aber war Sandra Bils dennoch überrascht von den hohen Wellen, die ihre Worte an diesem Tag gesellschaftlich und kirchlich ins Rollen brachten.
Bleiben wir beim Bild des Meeres, da, wo Sandra Bils sich zu Hause fühlt, und lassen wir die Wellen zunächst noch außen vor. Dann wäre eine andere und wichtige Botschaft in ihrer Predigt am besten als ein sicherer Hafen zu beschreiben. Denn Bils geht es um das Vertrauen. Grundlage ihrer Predigt ist der Hebräerbrief. Konkret Vers 10, 35-36: "Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt."
Der Hebräerbrief sei für sie "eine Mischung aus Trost und Arschtritt", fährt Bils fort und fordert: "Mensch, werft euer Vertrauen nicht weg!!!?" Drei Ausrufezeichen stehen im Manuskript der Predigt, sie stehen da, fest wie Wellenbrecher, die sich gegen den Trend stemmen, dass Menschen schon in dieser Zeit Kirche und Glauben vermehrt den Rücken kehren. Und doch, am Ende ragt ein Fragezeichen in den Raum. Denn Vertrauen sterbe und die Volkskirche bröckele, sie selbst sei voller Zweifel und hoffe auf das Vorschuss-Vertrauen Gottes, predigt sie weiter.
"Das sind wir: Gottes geliebte Gurkentruppe" - Sandra Bils
Ihre Sprache ist voll mit bildhaften Situationen. Momente, welche die Menschen kennen. Sei es das unwürdige Gefühl beim Verlassen des Sportplatzes bei den Bundesjugendspielen ohne Urkunde, der traurige Blick in den Spiegel nach einer Folge "Germany’s Next Topmodel" oder die Ohnmacht des Berufstätigen, der Richtung Burn-out taumelt. "Das sind wir: Gottes geliebte Gurkentruppe", sagt Bils humorvoll in ihrer Predigt. "Wir gehören zu Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der sich mit Prostituierten, Steuerbetrügern und Aussätzigen umgab. Der ihnen zuhörte, sie tröstete und heilte. Er liebte sie, mit einer Liebe, die stärker ist als der Tod."
Katja Eifler volontierte nach ihrer Studienzeit im Lokalradio im Rhein-Kreis Neuss. Anschließend arbeitete sie als Radioredakteurin. Später als Redaktionsleiterin eines Wirtschaftsmagazins am Niederrhein. Heute ist sie freischaffende Journalistin, Online-Texterin, Coach und Moderatorin. Seit April 2023 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Das Vertrauen Gottes und seine geschenkte Liebe sind der Wind in Bils' Segeln. Das bringt sie voran: "Nur mal angenommen. Wir würden das echt durchziehen. Dieses Vertrauen, diese Unerschrockenheit aus dem Glauben. Vielleicht zeigt sich das in neuen Formen von Kirche: Kirche als rollende Frittenbude. Glaube, Liebe, Currywurst."
Bils selbst ist zu dieser Zeit nicht nur als ökumenische Pastorin bei der kirchlichen Bewegung Kirchehoch2 tätig, sondern gilt als eine engagierte Kirchenentwicklerin. Sie will die Kirche modernisieren. Heute arbeitet sie als Referentin für strategisch-innovative Transformationsprozesse bei midi, der evangelischen Zukunftswerkstatt für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung in Berlin mit, und ist Honorarprofessorin für missionarische Kirchenentwicklung an der CVJM-Hochschule Kassel. Persönlich sieht sie ihr Engagement als Teil einer größeren Bewegung zur Erneuerung der Kirche. Eine Kirche, die sowohl in ihrer Tradition verwurzelt als auch offen für neue Wege ist.
Menschen ertrinken im Meer
Der Abschlussgottesdienst fällt in eine Zeit intensiver Diskussionen über die Seenotrettung im Mittelmeer. Während Christ:innen auf dem Kirchentag feiern, ertrinken Menschen auf ihrer Flucht im Mittelmeer. Zum Zeitpunkt des Kirchentags liegt das Rettungsschiff "Sea-Watch 3" mit Geflüchteten an Bord vor Lampedusa fest. Der damalige Kirchentagspräsident Hans Leyendecker und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm äußerten sich kritisch zur europäischen Flüchtlingspolitik, schreibt die westfälische Landeskirche in ihren News aus dieser Zeit.
Für Sandra Bils reicht an diesem Tag ein Satz: "Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!" Ihre Begründung liefert ihr die Bibel: "Wenn wir Jesus glauben: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan (Matthäus 25,40), dann ist für uns Leben retten kein Verbrechen, sondern Christenpflicht."
Die Worte werden von den Menschen rasch als Slogan aufgegriffen und gehen viral auf Social Media. Der Satz wird zu einem Leitspruch für die Befürworter:innen der Seenotrettung und löst eine breite gesellschaftliche und kirchliche Diskussion aus. Doch warum? In seiner Direktheit kritisiert Bils mit diesen Worten die europäische Flüchtlingspolitik und fordert Christ:innen zu einer eindeutigen Haltung dazu auf. Das hat Folgen für die Evangelische Kirche in Deutschland.
Wie politisch darf Kirche sein?
Bereits in der Woche nach dem Kirchentag stimmten die Kirchenoberen der Forderung der Petition zu, ein Schiff für die Seenotrettung im Mittelmeer anzuschaffen. Auf der Synode der EKD in Dresden wird im selben Jahr erneut heftig über das Pro und Kontra eines Rettungsschiffes diskutiert. Innerkirchliche Kritiker möchten verhindern, dass Kirchensteuermittel dafür eingesetzt werden. Andere sagen, dass mit der Seenotrettung das menschenverachtende System der Schlepper unterstützt würde. Auch die Frage, ob sich die Kirche überhaupt derart politisch betätigen soll, taucht wieder auf.
Doch die Befürwortenden sind in der Mehrheit. So beschließt der Rat der EKD am 6. September, einen Verein zu gründen. United4rescue heißt er. Gut ein Jahr danach ist es dann so weit. Das erste überwiegend aus kirchlichen Spenden finanzierte Seenotrettungsschiff sticht vom spanischen Burriana aus in See, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten.
United4Rescue wird heute aus 783 Bündnispartnerorganisationen gebildet. Sandra Bils ist Gründungsmitglied und bis heute dabei. Ihr Engagement ist für sie Ausdruck ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen, Christi:nnen werden gebraucht. In einem im ZDF übertragenen Gottesdienst thematisiert sie die Lage der Seenotrettung im Jahr 2021 erneut und ruft bis heute unermüdlich zum Spenden für das Projekt auf.
Damit zurück auf die große Bühne des Kirchentags in Dortmund. Bils' Predigt nähert sich dem Ende, fordert Antworten heraus und wird so ein Anfang: Vertrauen ist es, womit sich Christ:innen aus ihrer Sicht, tagtäglich in die Brandung zur Verteidigung christlicher Werte werfen sollten: "Behaltet euer Vertrauen, seid unerschrocken, zeigt gemeinsam euren Glaubensmut. Wir haben Gott an unserer Seite. Seine Zeit ist ganz und gar nicht vorbei. Unsere Zeit als Christinnen und Christen in dieser Welt ist nicht vorbei. Ich bin sicher: Wir werden gebraucht. Vielleicht mehr denn je. Wir haben sein Versprechen, seine Verheißung: Gott liebt uns durch alles hindurch. Worauf warten wir noch? Worauf warten wir noch? Amen."
Lesen Sie hier die gesamte Predigt im Wortlaut (ab Seite 543)