evangelisch.de: Vor 80 Jahren wurde der Zweite Weltkrieg beendet. Gibt es Fehler, die bei der Friedenssicherung gemacht worden sind, die heute noch spürbar sind für Europa?
Herfried Münkler: Das Problem des Zweiten Weltkrieges war eine eigentümliche Koalition zwischen den westlichen Demokratien, namentlich Großbritannien und den USA, und dem Diktator Stalin. Churchill soll schon 1946 gesagt haben: Ich fürchte, wir haben das falsche Schwein geschlachtet. Die Frage, ob man die Sowjetunion oder Deutschland als das eigentliche Hauptproblem betrachtete, stand kurz nach Kriegsende bereits im Raum.
Was heißt das genau? Sehen Sie Parallelen zu heute?
Münkler: Natürlich war der Krieg gegen Deutschland zu führen als den unmittelbaren Angreifer. Wenn man den 1. September 1939 als Beginn des Krieges mit dem Überfall Deutschlands auf Polen nennt, dann erfolgte etwas mehr als zwei Wochen später der Einmarsch der Sowjets, ebenfalls in Polen, auf den die Westmächte nicht reagierten. Das war inkonsequent.
Keine Reaktion, weil Russland ein potentieller Verbündeter war. Wie ging es weiter?
Münkler: Immerhin verständigte sich diese eigentümliche Koalition auf der Konferenz in Jalta und auch in Potsdam auf eine neue Ordnung in Europa und die Teilung Deutschlands durch entsprechende Grenzziehungen. Europa wurde geteilt, in das zum Osten und das zum Westen Gehörende. Das hatte mehr als 40 Jahre eine gewisse Ruhe in Form einer prekären Stabilität hergestellt. Aber eine waffenstarrende Stabilität.
Durch die zwei Blöcke entstand eine Art Gleichgewicht der Mächte.
Münkler: Bipolarität ist ja eine sehr überschaubare Konstellation, weil es keinen dritten, keinen vierten, keinen fünften großen Akteur gibt. So waren die Rüstungsanstrengungen dieser Zeit eigentlich immer darauf bedacht, Symmetrien herzustellen, sodass keine Seite ein Übergewicht hatte. Aber die Leidtragenden waren die Menschen im Osten und die Profiteure in vieler Hinsicht die Menschen im Westen.
"Aber die Leidtragenden waren die Menschen im Osten und die Profiteure in vieler Hinsicht die Menschen im Westen."
Das war der Preis für die Stabilität. Und über dieses Abkommen konnten die Deutschen als Kriegsverlierer nicht entscheiden oder verhandeln, sondern der Preis war festgelegt, und er wurde bezahlt und entrichtet. Diese Situation einer gewissen politischen Stabilität wurde in der Schlussphase mit der Frage der NATO-Nachrüstung zum Stress. Das Problem bestand darin, dass der Raum, der die heutige Bundesrepublik ausmacht, der am höchsten militarisierte Raum weltweit war.
Welchen Herausforderungen stellen sich westliche Demokratien heute z.B. um den Frieden zu sichern. Sehen sie Parallelen zum Zweiten Weltkrieg?
Münkler: Die Amerikaner haben 1943 die Formel ausgegeben "Unconditional surrender" - also "bedingungslose Kapitulation" Deutschlands. Keine Verhandlung. Obwohl Teile der NS-Führung die 1945 gerne geführt hätten: Sowohl Himmler als auch Göring haben versucht, mit den Westmächten Gespräche zu führen, die nicht zustande kamen, weil das Prinzip der völligen Debellatio (Besiegung) Nazi-Deutschlands galt. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu heute. Wenn man irgendwelche Analogien herstellen will, sollte man auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs schauen. Da gab es das schrittweise Zurückweichen Frankreichs und Großbritanniens vor Hitler. Immer größere Brocken konnte sich Hitler nehmen, bis man schließlich in London und Paris zu dem Ergebnis kam: Okay, das ist einer, der wird vom Fressen hungrig.
Wie beim Ukraine-Krieg, in dem Russland jetzt nicht genug haben kann?
Münkler: Man kann an den Abkommen Minsk I und II sehen, dass der Westen der russischen Seite sehr weit entgegengekommen ist. Es war im Prinzip eine Form der Appeasement Politik, die nun von den Franzosen und den Deutschen betrieben worden ist. Man hatte die Hoffnung, dass es auf diese Weise gelingen werde, den Krieg einzufrieren und damit quasi zu beenden. Nicht mit einem Frieden, aber doch durch den Nichtgebrauch der Waffen. Das ist mit dem russischen Angriffskrieg am 24. Februar 2022 gescheitert.
Appeasement funktioniert nicht. Aber was braucht es heute, um Kriege zu beenden?
Münkler: Wissen Sie, wenn Sie diese Frage an Churchill oder an Roosevelt 1944 gestellt hätten, dann hätte jeder von beiden gesagt: die bedingungslose Kapitulation des Angreifers, dessen, der diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Diese Antwort kann es heute nicht mehr geben. Dazu wären auch die westlichen Gesellschaften, denke ich, nicht bereit.
"Also taugt in der Frage der Kriegsbeendigung die Analogie zum Zweiten Weltkrieg nicht."
Also taugt in der Frage der Kriegsbeendigung die Analogie zum Zweiten Weltkrieg nicht. In der Frage des Kriegsanfangs aber sehr wohl. Jetzt muss man entscheiden. Wenn man darauf setzt, dass der Krieg möglichst schnell beendet wird, wäre die Formel Land gegen Frieden eine Option.
Zu welchen Konditionen?
Münkler: Dass die Ukraine große Teile des Donbass abgibt. Allerdings unter einer Voraussetzung, dass die Ukraine einen Schutzstatus bekommt, gegebenenfalls auch in Form einer Stationierung von NATO-Truppen auf ihrem Gebiet.
Was wäre, wenn die Ukraine Mitglied in der NATO wird oder in einem Abkommen den Schutz von den westlichen Mächten erhält?
Münkler: Davor haben alle Politiker offensichtlich Angst. Weil dann die Formel, dass wir Europäer unter keinen Umständen Kriegsbeteiligte werden, so nicht aufrecht zu erhalten wäre. Sondern man müsste der Ukraine dann Garantien geben in dem Vertrauen darauf, dass Putin diese Garantien ernst nimmt und nicht noch einmal angreift. Doch dann hat man die Dinge nicht mehr in der Hand; dann entscheidet Putin.
Es gibt in der evangelischen Kirche viele Befürworter, die hier nach einem Frieden rufen. Aber wie kann da ein gerechter Friede aussehen?
Münkler: Den gerechten Frieden kann man schon beschreiben: nämlich, dass die Russen relativ viel bezahlen müssen, um die Zerstörungen, die sie in der Ukraine angerichtet haben, wiedergutzumachen. Dass sie Geld geben für den Wiederaufbau der Ukraine. Das werden sie aber nicht tun, denn Putin sagt im Augenblick, er sei auf der Bahn des Sieges. Ansonsten wird er sagen, es wäre ihm schon teuer genug, die Teile der Ukraine, die er dann annektiert, wieder aufzubauen, nachdem er sie vorher kaputt geschlagen hat.
Kein gerechter Friede in Sicht?
Münkler: Damit ist nicht zu rechnen. Ein gerechter Friede hätte zur Voraussetzung, dass es eine fundamentale Veränderung in Russland gibt. Dass man sich von der Expansionspolitik verabschiedet. Diese Veränderung kann man jedoch nicht von außen erzwingen.
Könnten die Kirchen eine Rolle spielen für Friedensverhandlungen oder Friedenssicherung? Indem auf das Moskauer Patriarchat eingewirkt wird?
Münkler: Eher nicht. Dazwischen steht eine fundamental unterschiedliche Entwicklung zwischen der russisch-orthodoxen Kirche, die immer in Abhängigkeit vom "Zaren" stand, und der Entwicklung des Christentums im Westen. Das lateinische Christentum hat auf dem Gegensatz von Papst und Kaiser beruht oder auch von Intellektuellen und politischer Macht. Der Patriarch und die orthodoxe Kirche Moskaus werden das Bündnis, das sie mit Putin eingegangen sind, nicht aufgeben. Dort wird quasi die Wiederherstellung der Situation vor 1917 anvisiert. Wir können nur beobachten, wie die Spaltung im Hinblick auf die Ukraine weiter verläuft, wie die Ukraine in der Lage ist, sich kirchenpolitisch zu reorganisieren.
Keine Hoffnung auf Frieden?
Münkler: Einen Frieden herstellen kann nur derjenige, der die Fähigkeit hat, den Ukrainern die entsprechenden Sicherheitsgarantien zu geben. Die Schweizer beispielsweise glauben immer, sie werden, weil sie neutral sind, der Ort der Verhandlungen sein. Sie haben auch auf dem Bürgenstock ein entsprechendes Treffen gehabt. Das war aber realpolitisch betrachtet, ein Desaster. Also nochmal: Nur derjenige, der die Ukraine durch entsprechende Leistungen dazu bringen kann, auf Land zu verzichten, was ja nicht leicht ist, wird eine ernst zu nehmende Rolle als ein Organisator der Kriegsbeendigung und der Friedenssicherung spielen können. Das kann der künftige Präsident Trump sein. Das könnten aber auch die Europäer sein.
Was ist mit den hohen Opferzahlen, den 100.000den Kriegstoten, die vielen toten Soldaten und Zivilisten? Motiviert das für ein Kriegsende?
Münkler: Man sollte nicht unterschätzen, dass die vielen Opfer beide Parteien auch zum Weiterkämpfen antreiben. Weil man sich den Toten verpflichtet sieht. Ich habe ein Buch über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Da sind mir aus kirchlichen Kreisen immer wieder Predigten begegnet, in denen "das Opfer unserer gefallenen Helden" als Verpflichtung gesehen wurde, diesen Krieg weiterzuführen bis zum Sieg.
"Weil so viele Opfer schon gebracht worden sind, können die Parteien das Abschlachten nicht beenden."
Also das genaue Gegenteil dessen, was Sie ansprechen. Weil so viele Opfer schon gebracht worden sind, können die Parteien das Abschlachten nicht beenden. Die erbrachten Opfer nötigen die Kriegsparteien gerade dazu, immer neue Menschen nachzuschießen in diesen Krieg. Man kann sagen, ein Denken in den Kategorien des "Opferbringens" ist eigentlich kriegsstimulierend.
Wäre ein Waffenstillstand eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden? Das wäre noch kein Frieden, aber eine Zäsur.
Münkler: Auch da gibt es keine Garantie. Das Problem wird sein, wer der Nachfolger von Wolodymyr Selenskyj wird? Wird sein gewählter Nachfolger das weiterführen, wenn der aktuelle Präsident die annektierten Gebiete an Russland abtritt. Ein solches Paket würde sicherlich zu scharfen inneren Auseinandersetzungen in der ukrainischen Gesellschaft führen. Denn dann wäre ja alles vergeblich gewesen. Von daher könnte eine Beendigung des Krieges erst einmal in einem Waffenstillstand bestehen. Der müsste relativ lange andauern und die Ukraine müsste den auch mittragen. Oder wenigstens den Bedingungen zustimmen und entsprechenden Sicherheitsgarantien des Westens erhalten in der Erwartung dessen, dass vielleicht in Russland Veränderungen politischer Art eintreten, die es ermöglichen, das ganze Paket noch einmal aufzuschnüren. Das wäre eine Möglichkeit, sich an einen Frieden heranzutasten.
Was kann denn noch helfen? Welches Szenario sehen Sie für einen Ausstieg aus dem Krieg?
Münkler: Das Optimum, das dem Westen offenstand, hätte darin bestanden, Putin einen Preis durch entsprechende Verluste abzuverlangen, den er eigentlich gar nicht bezahlen kann, sodass er in seinen Zielen hätte zurückstecken müssen. Das sehe ich im Augenblick nicht mehr. Insofern wird das Ganze auf eine Kriegsbeendigung hinauslaufen, bei der keiner von uns sagen kann, ob die Beendigung des Krieges jetzt nicht eher der Auftakt zu einem größeren Krieg demnächst ist. Da sind schon viele Türen mit Zeitfenstern zugeschlagen.
Wenn der Appetit beim Fressen kommt, heißt das, dass wir nicht drumherum kommen, den Preis so hoch zu heben, dass Putin die Finger davon lässt, etwas Ähnliches in der Ostsee zu versuchen – ähnlich wie das, was er am Asowschen und am Schwarzen Meer gemacht hat. Für Putin und vor allem die russische Bevölkerung muss klar sein, dass der Versuch der Wiederherstellung des alten Russland für sie ruinös sein wird.