Märchen als Mutmacher

Märchenerzählerin Hanna Schilling
epd-bild/Evelyn Sander
Märchenerzählerin Hanna Schilling aus Hamburg liest aus Grimms Märchen vor (Foto vom 5. Dezember 2024).
Der Weltgeschichtentag
Märchen als Mutmacher
Mut, Aufbruch, Veränderung: Alte Märchen sind Geschichten voller Symbolkraft, sagt die Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft. Sie ist überzeugt: Wir brauchen einfach Erzählungen von Mensch zu Mensch - nicht nur am Weltgeschichtentag.

Es geht um Wünsche und das Böse, das besiegt wird. "Märchen geben Hoffnung in schwierigen Zeiten", sagt Sabine Lutkat, Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft. Trotz böser Hexen, missgünstiger Schwiegermütter und gefährlicher Wölfe gehen die Geschichten immer gut aus. Das könne Mut machen, sagt die 54-Jährige zum "Weltgeschichtentag" am 20. März.

"Eine Lösung für politische Krisen sind sie natürlich nicht", sagt Lutkat und lächelt. Aber die Geschichten zeigten in symbolischen Bildern, wie ein Lebensweg gelingen könne. Auch zur Toleranz und Völkerverständigung könnten Märchen beitragen. Lutkat: "Menschen in unterschiedlichsten Kulturen erzählen sich ähnliche Geschichten. Wir haben alle die gleichen Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen."

Zuhörende wie ausgetrockneter Schwamm

Doch die Erzählkultur sei auf der Strecke geblieben: "Viele Menschen kennen Märchen nur noch als kitschige Disney-Filme." Bei einigen Menschen seien die Geschichten auch wegen grausamer Inhalte oder altmodischer Rollenklischees verpönt. Trotzdem halte sich die Faszination: "Die Nachfrage nach unseren Angeboten ist groß", sagt die Chefin der Märchengesellschaft, die auch Märchenerzähler und - erzählerinnen ausbildet.

Im Zeitalter der Digitalisierung hätten Menschen "ein großes Bedürfnis nach sinnhaltigen Geschichten", ist Lutkat überzeugt. Manche Zuhörende wirkten auf sie wie ein ausgetrockneter Schwamm: "Wir brauchen einfach Erzählungen von Mensch zu Mensch."

Die Hamburger Märchenerzählerin Hanna Schilling erzählt am liebsten aus der Sammlung "Kinder- und Hausmärchen", die Jacob und Wilhelm Grimm zwischen 1812 und 1858 herausgegeben haben. Laut Unesco ist es neben der Lutherbibel das bekannteste und weltweit am meisten verbreitete Buch deutscher Sprache.

Diese Märchensammlung, die in 160 Sprachen übersetzt wurde, war ursprünglich für Erwachsene gedacht. "Wir müssen Märchen symbolisch verstehen", sagt Hanna Schilling und blättert in dem dicken Buch. Es habe nie eine Hexe gegeben, die Kinder im Wald gegessen habe. Figuren wie Hexen oder böse Stiefmütter seien Bilder für Lebenserfahrungen, elementare Ängste und Wünsche. Sie könnten helfen, mit bedrohlichen Gefühlen umzugehen.

"Wer nur abwartet, wird nicht belohnt"

Und am Ende laute die zentrale Botschaft: "Egal, wie groß die Not ist, du kommst da durch", sagt Schilling. Heldinnen und Helden der Geschichten stammen oft aus einfachen Verhältnissen, aber sie werden aktiv, ziehen in die Welt hinaus und übernehmen Verantwortung. Schilling: "Wer nur abwartet, wird nicht belohnt."

Kritisch werden heute dennoch die Rollenbilder gesehen. Es gibt die eifersüchtige Stiefmutter, den bösen Wolf und das schlafende Dornröschen, das nach 100 Jahren vom tapferen Prinzen wachgeküsst wird. "Märchen sollten nicht zu sehr auf Rollenklischees reduziert werden", findet Erzählerin Schilling. Es gebe genauso viele Frauen in Märchen, die Männer erlösten, wie Männer, die Frauen erlösten. In "Die sieben Raben" rettet die Schwester gleich alle sieben Brüder.

In Verruf kamen Grimms Märchen auch, weil sie von den Nationalsozialisten für deren Propaganda genutzt wurden. Einige Märchen wurden sogar umgeschrieben oder gezielt uminterpretiert: "Die Nazis dichteten der Figur Rumpelstilzchen vermeintlich jüdische Attribute an, machten ihn zum Schurken und stellten ihm eine blonde, blauäugige Müllerstochter gegenüber", erklärt Oliver Geister, Märchenpädagoge, Lehrer und Uni-Dozent aus Münster. Dabei seien Grimms Märchen alles andere als ur-deutsche Geschichten. "Sie werden weltweit in verschiedenen Varianten erzählt."

Grundsätzlich könnten Märchen vielseitig interpretiert werden, weiß Geister. Das Märchen vom Rumpelstilzchen zeige beispielsweise, wie Gier, Macht und Geheimnisse oft missbraucht würden, um andere zu manipulieren. Aktuelle Themen, findet er. Mit seiner Schulklasse inszenierte er die Geschichte auch schon mal als Gerichtsverhandlung, in der der lügende Müller und der gierige König angeklagt wurden.

Am besten werden Märchen durch mündliches Erzählen weitergegeben, findet Hanna Schilling. Nur so würden Menschen "eigene Bilder im Kopf entwickeln". Rund 60 Erzählerinnen und Erzähler vom Märchenforum Hamburg sind allein im Norden für Kinder und Erwachsene unterwegs.

Schilling liebt Märchen wie Froschkönig und Rumpelstilzchen: Geschichten, die von Mut, Aufbruch, Veränderungen und einem guten Ende erzählen. "Und das können wir alle in der heutigen Zeit sehr gut gebrauchen."