Syrerin trotzt Verzweiflung mit Schreiben

Interview mit syrisch-deutscher Studentin Roula Al Sagheer
Khalid Alaboud
Die syrisch-deutsche Studentin Roula Al Sagheer hat zwei Bücher zum Thema Flucht veröffentlicht.
Amal on Tour
Syrerin trotzt Verzweiflung mit Schreiben
Die syrisch-deutsche Studentin Roula Al Sagheer hat zwei Bücher veröffentlicht: einen Roman und eine Sammlung von Geschichten über die Realität der syrischen Flüchtlinge in Deutschland. Auf Einladung der Diakonie hat sie kürzlich bei der Interkulturellen Woche in Reutlingen daraus gelesen. Khalid Al Aboud ist Nachrichten-Redakteur bei Amal, Berlin! und hat die Studierende getroffen.

Ich traf Roula Al Sagheer in der historischen Bibliothek des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Universität Tübingen, direkt am Neckar und in der Nähe des Turms, in dem der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin die letzten 36 Jahre seines Lebens in Isolation verbrachte. Kritiker beschrieben diese Zeit als eine Phase tiefer Reflexion, in der seine Gedichte zum Spiegel seiner unruhigen Seele wurden, die versuchte, sich mit der Welt um ihn herum zu versöhnen. Roula, die aus Qaboun in Damaskus stammt und dort ihre Kindheit verbrachte, hat vor kurzem ihr zweites Buch auf Deutsch veröffentlicht. Es heißt "Herzklopfen und Hoffnung". Es erschien zwei Jahre nach ihrem ersten Roman "Pangäa", den ihre Mutter ins Arabische übersetzt hat. Roula studiert in Tübingen Erziehungswissenschaften. 

Roula (22) kam vor zehn Jahren mit ihrer Familie über das Meer nach Deutschland. Schreiben ist für sie eine Möglichkeit, ihre Energie zu kanalisieren. "Es ist für mich wie für andere der Sport: Es ist ein Weg, um meine Energie abzubauen und um mich selbst und andere besser zu verstehen. Gleichzeitig ist es eine Möglichkeit, dass andere mich verstehen und nachvollziehen, was mir und uns allen widerfahren ist."

Roula hat schon im Alter von neun Jahren angefangen zu schreiben. Ihre Tagebücher von damals sind das einzige, was sie aus Syrien mitgebracht hat. Diese Tagebücher sollen nicht veröffentlicht werden, aber ihr erster Roman basiert darauf.

Kunst kann Dinge verändern Schreiben, so Roula, ist auch ein Mittel, um die Welt und die Gesellschaft zu verändern. "Wenn man gesellschaftliche Veränderungen bewirken möchte, sollte man sich der Kunst zuwenden. Ich bin überzeugt, dass die Kunst mehr Einfluss hat als die Politik. Ich habe das Talent zu schreiben und ich möchte mit meinem Talent zur Veränderung
beitragen."

Eine Bombe auf die Bäckerei

In ihrem Roman "Pangäa" erzählt Roula die Geschichte einer Familie, die zwei ihrer Kinder durch einen Bombenangriff auf die Bäckerei im Viertel verloren hat. Sie erzählt das aus der Perspektive der Großmutter Hakima, hundert Jahre nach dem Massaker, in einer Atmosphäre voller Hoffnung. Wer den Roman in der heutigen Zeit liest – also vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse – , dem kommt das vor wie ein Traum, fernab der Realität. Manche sehen das als Science Fiction. Roula lehnt das vehement ab. 

"Ist es Science Fiction, wenn ich sage, dass eines Tages der Krieg in Syrien enden wird und es Frieden gibt? Das so zu sehen, ängstigt und stört mich." Roula fügt hinzu: "Wer mich kennt, weiß, dass vieles von dem, was ich in der Geschichte erzähle, mir persönlich widerfahren ist. Aber ich habe einen Sicherheitsabstand zwischen mir und der Protagonistin geschaffen."

Für Roula ist die Erzählung zu lesen keine "Zeitverschwendung". Sie vermittelt eine Botschaft, die den Leser berühren und inspirieren kann. In "Pangäa" erzählt Roula nicht nur von sich, sondern auch Geschichten, die sie gehört hat und die sie berührt haben. "Wenn ich nur meine eigene Geschichte schreiben wollte, wäre das unfair. Ich könnte die anderen Geschichten, die ich gehört habe, nicht vermitteln. Ich wollte die Geschichte vollständig erzählen."

Pangäa heißt auch der Roman von Roula, so wie der riesige Ur-Kontinent, der sich vor 250 Millionen Jahren über die Erde erstreckte. Gefragt, ob sie Syrien als ihren UrKontinent sieht, erklärt Roula: "Der zweite Teil des Buches spielt in der Zukunft, in einem Syrien in 100 Jahren. Aber wie dieses Land dann aussieht habe ich nicht erfunden. Ich habe die Idee dafür aus den Geschichtsbüchern. Das alte Syrien – wir nennen es den Sham-Raum – erstreckte sich von der arabischen Wüste im Süden bis Kleinasien im Norden und vom Mittelmeer im Westen bis zum Euphrat im Osten. Überraschenderweise glauben einige Leser, dass das unmöglich sei und nur Fantasie, obwohl es in Syrien tatsächlich so war.

Erinnern für die Zukunft

Roula ist überzeugt, dass "über verschüttete Milch nicht weinen sollte". Aber sie findet es wichtig, sich mit der Vergangenheit zu befassen. "Wenn man sieht, wie das Leben damals war, erinnert man sich an seine ursprüngliche Identität und daran, wie wir waren. Man kann aus der Vergangenheit lernen und sie für den Aufbau der Zukunft nutzen." Roula sieht das alte, große Syrien als Urkontinent, wo Menschen aus aller Welt, aller Völker und Religionen lebten. Es war ein einheitliches Land, ohne die Grenzen von heute. Ihre Großeltern haben Roula auch viel über Damaskus erzählt und "seine Identität, die sich aus all denen zusammensetzt, die dort lebten." So kommt es, dass Roula davon träumt, dass Syrien wie ein "Ur-Kontinent" wieder zusammenwächst.

Nicht auf Ruinen weinen

Es ist ja lange her, seit Roula angefangen hat, den Roman zu schreiben, sie war damals erst 14, und sie hat vier Jahre gebraucht, bis er fertig war. Würde sie das heute noch einmal so schreiben? "Die Linse, durch die ich die Zukunft sehe, hat sich verändert. Ich schrieb über Syrien als Utopie, und durch die Ohrfeigen, die ich erhalten habe, habe ich erkannt, dass die Dinge nicht so sind. Aber man sollte die Hoffnung nicht verlieren und sich bemühen. Der Rest liegt in den Händen Gottes, und wir sollten nicht verzweifeln. Wir müssen uns
selbst aufbauen, lernen und studieren und nicht nur auf den Ruinen sitzen und weinen."

Sie glaubt, dass jeder Mensch in dem Bereich beginnen sollte, den er liebt und wo er sich selbst sieht. "Ich versuche, in meinem Bereich einen Eindruck zu hinterlassen." Sollte Roula ihren ersten Roman heute noch einmal schreiben, würde sie nichts ändern. Die Ereignisse und Figuren wären die gleichen.

Herzklopfen und Hoffnung

Ihr zweites Buch hingegen ist anders. Es vereint "Freude und Trauer, Frustration und Liebe, Angst und Geborgenheit", wie sie in einem Interview mit der Nachrichten-Seite TÜ News kürzlich sagte. Es besteht aus Geschichten von 17 Personen, die Roula persönlich kennt oder zu denen sie durch einen Aufruf für ihr Buchprojekt Kontakt aufgenommen hat. Jede davon "hat eine besondere Geschichte, aber gleichzeitig teilen alle etwas, das alle erlebt haben." Roula wollte, dass das Buch nicht nur von Erfolgen handelt, sondern dass der Leser in den Geschichten etwas findet, das ihm ähnelt. Es sind Geschichten gewöhnlicher Menschen, die alle ähnliche Hindernisse überwunden
haben. Zudem enthält das Buch auch Meinungen von Fachleuten, die neutral und aus wissenschaftlicher Sicht sprechen.

Zum Titel "Herzklopfen und Hoffnung" sagt Roula: "Unsere Geschichten vereinen beides. Der Leser wird merken, wie sein Herz schneller schlägt. Er wird besorgt und unruhig sein, aber am Ende wird es ihm große Hoffnung geben. Die Geschichten enthalten eine Portion Hoffnung und eine Portion Unruhe."
Mit ihrem zweiten Buch hat sie beim "Young Storyteller Award 2024" mitgemacht, einem Wettbewerb für junge Autor:innen, der von Thalia und Story.One organisiert wird.

Gerne hätte sie es damit auf die Shortlist der 10 besten von 3700 Büchern geschafft. Aber sie hatte sie nicht das Glück, zu gewinnen.

evangelisch.de dankt der Diakonie Württemberg und Amal, Berlin! für die inhaltliche Kooperation.