epd: Sie wollen leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen werden. Was reizt Sie am Präses-Amt und welche Themen wollen Sie angehen, wenn Sie gewählt werden?
Adelheid Ruck-Schröder: Die westfälische Kirche hat starke Ressourcen, aber sie ist in schweres Fahrwasser geraten - finanziell und auch im Blick auf die lange Vakanz des Präses-Amtes. In dieser Situation geht sie mit großer Zuversicht und Entschlossenheit nötige Reformen an. Es reizt mich, diesen Prozess zu begleiten. Alle Kirchen müssen sich der Tatsache stellen, dass sie zahlenmäßig kleiner werden. Die Herausforderung ist, als Kirche trotzdem präsent und anschlussfähig zu bleiben und die Kommunikation des Evangeliums in neuen, zeitgemäßen Formen zu gestalten. Die Gestalt der Kirche wird sich stark verändern. Eine flächendeckende Versorgung mit genauso viel Personal wie heute wird es nicht mehr geben.
Wie stellen Sie sich die westfälische Kirche in zehn Jahren vor?
Ruck-Schröder: Ich glaube, es wird mehr Inseln des Gelingens geben, exemplarische Orte kirchlichen Lebens. Wir werden damit leben müssen, dass wir nicht überall gleich ausgestattet sind: Neben Gemeinden und Orten mit viel Energie und Ausstrahlung kann es Orte geben, an denen sich nur wenige Menschen treffen. Viele Gemeinden werden sich profilieren: Manche sind stärker diakonisch geprägt, andere eher kirchenmusikalisch.
Wo sehen Sie neben der Haushaltskonsolidierung die größten Herausforderungen?
Ruck-Schröder: Eine zentrale Herausforderung wird sein, weiterhin Menschen zu gewinnen und zu motivieren, die hauptberuflich oder ehrenamtlich in der Kirche arbeiten. Für was beauftragen wir Menschen? Wie sind wir attraktiv für Leute, die als Pfarrer, Religionslehrerin, Sozialarbeiter oder Kirchenmusikerin bei uns arbeiten sollen und das Gefühl haben sollen, dass ihre Arbeit sich lohnt?
Einige Landeskirchen wollen Pfarrpersonen künftig nicht mehr verbeamten. Wie stehen Sie dazu?
Ruck-Schröder: Die Frage öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse ist eigentlich ein Thema der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Das sollten wir als Landeskirchen gemeinsam entscheiden, auch wenn jetzt manche vorpreschen. Zunächst wäre zu fragen, welches Problem wir lösen wollen. Wenn es um die Kosten geht, würde man mit der Abschaffung der Beihilfe für die Gesundheitskosten im Ruhestand schon sehr viel sparen. Wenn es darum geht, als Kirche nicht mehr staatsanalog organisiert zu sein, geht es um flexible Formen der Beschäftigung ohne Beamtenstatus, die attraktiv für den theologischen Nachwuchs und zugleich finanzierbar sind.
Ein Argument für einen Ausstieg aus der Verbeamtung sind die Rechtsverpflichtungen in Millionenhöhe, die man für künftige Generationen eingeht.
Ruck-Schröder: Ziel sollte deshalb sein, ein attraktives Berufsbild zu bieten, aber keine Verpflichtungen einzugehen, die wir nicht erfüllen können. Am Beamtenstatus hängt nicht die Seligkeit, dieses Modell ist weltweit einzigartig und letztlich zweitrangig. Über alternative Formen denken wir übrigens auch im Blick auf den Körperschaftsstatus der Kirchengemeinden nach. Ein Rechtsrahmen, der lange Zeit gut war, überfordert heute möglicherweise viele Gemeinden.
Sie haben mal gesagt, es solle künftig weniger Pastorenkirche und mehr Beteiligungskirche geben. Was meinen Sie damit?
Ruck-Schröder: Der Pfarrberuf wird gebraucht, weil er durch das Theologiestudium Zugang zu Quellen schafft, die wir für die heutige Zeit übersetzen müssen. Über Jahrzehnte gab es aber eine starke Fixierung aufs Pfarramt, dem andere Berufe untergeordnet wurden. Heute müssen wir stärker interprofessionell denken. Zur Beteiligung gehört zudem das Ehrenamt. Letztlich geht es darum, wie sich möglichst viele Menschen an der Kommunikation des Evangeliums beteiligen und selbstständig denken, selbstständig glauben und miteinander Christsein gestalten können.
Zum Thema Reformen: Was ist nötig für die Kirche der Zukunft?
Ruck-Schröder: Vor allem müssen wir unser Mindset grundlegend ändern. Weniger als 50 Prozent der Menschen gehören einer der beiden großen Kirchen an, wir sind keine Volkskirche mehr. Deshalb sind Sparmaßnahmen und effizientere Strukturen nötig.
Auch als kleinere Kirche können wir als signifikante Größe eine klare Stimme in der Gesellschaft sein.
Das ist auch ein geistiger und ein geistlicher Prozess: Auch als kleinere Kirche können wir als signifikante Größe eine klare Stimme in der Gesellschaft sein. Wir bleiben Kirche auf gutem Grund und mit gleich großem Auftrag. Es gilt zu fragen: Was heißt heute Christsein gestalten und Evangelium in der Gesellschaft leben?
Was ist Ihnen am Glauben persönlich wichtig?
Ruck-Schröder: Mir gibt der Glaube Vertrauen, Zuversicht und Lebensmut. Mir wird zugetraut, in der Welt etwas beizutragen. Kirche sollte ein Ort sein, an dem Menschen gute Erfahrungen machen und sich verändern können.
Viele Menschen haben Vertrauen in die Kirche verloren, weil ihnen durch sexualisierte Gewalt Mut und Zuversicht geraubt wurden. Wie kann dieses Vertrauen zurückgewonnen werden?
Ruck-Schröder: Zunächst müssen wir hören, wahrnehmen und aushalten, dass in der evangelischen Kirche Missbrauch stattgefunden hat und vermutlich auch gegenwärtig stattfindet. Vertrauen können wir nicht paternalistisch zurückgewinnen wollen. Wir können aber gemeinsam mit Betroffenen Standards für Aufarbeitung, Prävention und Anerkennungsleistungen erarbeiten. Es ist gut, dass es Beteiligungsforen gibt.
Bei welchen Themen sollte sich die Kirche in der Gesellschaft einmischen?
Ruck-Schröder: Manche Themen werden uns vor die Füße gelegt, zum Beispiel das Thema Migration im Bundestagswahlkampf. Es ist eine Pflicht der christlichen Kirche, zu sagen, dass Migration nicht die Mutter aller Übel ist. Hier geht es um unsere christlich-jüdischen Überzeugungen. In der Bibel geht es ständig um Migration, um Nächstenliebe, Zusammenhalt und Respekt vor dem anderen.
Auch für die Wahrheit sollen wir unsere Stimme erheben - zum Beispiel bei Fake News oder wenn im Ukrainekrieg Täter und Opfer verkehrt werden.
Jesus selbst war ein Flüchtlingskind. Der Schutz von Witwen, Waisen und Fremden ist eine biblische Grundforderung. Auch für die Wahrheit sollen wir unsere Stimme erheben - zum Beispiel bei Fake News oder wenn im Ukrainekrieg Täter und Opfer verkehrt werden.
Nach der US-Wahl und angesichts von Konflikten, Krisen und wachsendem Extremismus gibt es in der Gesellschaft viel Angst und Verunsicherung. Was kann hier die Rolle von Kirche sein?
Ruck-Schröder: Wir können dazu beitragen, Lügen zu dechiffrieren, und Orientierung für das Zusammenleben geben. Wenn US-Präsident Donald Trump Entwicklungshilfe streicht und sagt, wir seien eine Ellbogengesellschaft und es gehe nur um einen Deal, dann sagen wir als Kirche: Nein, es geht auch um Zusammenhalt und den Schutz von Schwachen. Es ist eine Christenpflicht und eine Grundidee des christlichen Glaubens, Schwächeren zu helfen.
Mit Blick auf den Ukrainekrieg und die künftige Sicherheit Europas ist in Deutschland ein Sondervermögen in dreistelliger Milliardenhöhe geplant, die Auftragsbücher von Rüstungskonzernen sind voll. Was lässt sich dazu vor dem Hintergrund einer evangelischen Friedensethik sagen?
Ruck-Schröder: Aus biblischer Sicht gehören Frieden und Gerechtigkeit zusammen. Deshalb bin ich der Meinung, dass sich ein Land wehren darf, das überfallen wird.
Zum Szenario eines gerechten Friedens gehört aber nach meinem Verständnis auch militärische Hilfe für das angegriffene Land.
Als Kirche nehmen wir Szenarien eines möglichen Friedens in den Blick: Wir fragen, wie in dieser Region Frieden ermöglicht werden kann. Das geht letztlich nur über Verhandlungen, bei denen die Konfliktparteien am Tisch sitzen und Kompromisse aushandeln. Zum Szenario eines gerechten Friedens gehört aber nach meinem Verständnis auch militärische Hilfe für das angegriffene Land.
Sie beschäftigten sich schon seit Ihrem Studium intensiv mit dem Judentum und christlich-jüdischer Zusammenarbeit. Wie blicken Sie auf den israelisch-palästinensischen Konflikt?
Ruck-Schröder: Mit ganz viel Sorge. Die Gewalt ist eine Katastrophe, sie hat viel Hass und Feindschaft in den Herzen der Menschen ausgelöst. Das Leid auf beiden Seiten ist für uns eine Zerreißprobe und ein Weg zur Versöhnung scheint unermesslich lang und schwer. In der Debatte dürfen wir aber nicht vergessen, dass es der Überfall der Hamas auf Israel war, der die Gewalt ausgelöst und Israel retraumatisiert hat. Unsere Aufgabe als Kirche ist, hier in Deutschland den Dialog und positive Begegnung zu ermöglichen, zum Beispiel in runden Tischen der Religionen. Und wir müssen dem gewachsenen Antisemitismus und einer strukturellen Israelfeindschaft entgegentreten.