Die Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegenüber der Politik in Berlin und Brüssel, Anne Gidion, empfindet ihre Arbeit im Berliner Regierungsviertel nach eigenen Worten als "Form von Sonderpfarramt". Zum Amt gehöre Verständnis für den "Wahnsinn des parlamentarischen Alltags", sagte sie jüngst bei der einer Feier zum 25. Geburtstag der Dienststelle der EKD-Bevollmächtigten im Oktober in Berlin. evangelisch.de-Mitarbeiter Thomas Klatt führte mit ihr ein Interview zur aktuellen politischen Lage in Berlin.
evangelisch.de: Frau Gidion, Sie haben - denke ich - eine Jahresakkreditierung für den Deutschen Bundestag und kommen den Menschen dort näher als andere.
Anne Gideon: Den Deutschen Bundestag und auch die Ministerien, also das bundespolitische Berlin, betrachte ich in meiner Rolle als Prälatin als eine Form von Gemeinde. Hier verkörpere ich die Evangelische Kirche und eben auch den Seelsorgeteil von Kirche.
Und wie haben Sie als evangelische Seelsorgerin die Situation im Bundestag und in der Koalition wahrgenommen?
Anne Gideon: Die letzten Wochen waren sehr angespannt. So manches Gespräch hatte auch seelsorgerliche Anteile. Die Anspannung war überall spürbar. Diese extreme Verdichtung mit dem Ergebnis der Wahlen in den USA und dem Ende der Ampel führt zu intensiven Diskussionen. Der Erschöpfungsgrad der Verantwortlichen war schon vorher sehr hoch. Gerade geschieht eben sehr viel gleichzeitig.
Viele Bürgerinnen und Bürger kennen Politiker in der Regel nur als Menschen, die in der Tagesschau kurze Statements abgeben. Scheinbar cool und unnahbar. Sie aber sind näher dran.
Anne Gideon: Politikerinnen und Politiker sind natürlich Menschen mit Herz, Hirn und Seele, die einen ausgesprochen anspruchsvollen Job machen und versuchen, gute Antworten zu finden auf die Herausforderungen, die wir ja alle sehen. Zu nennen sind etwa der Haushalt, die geopolitische Lage, die Anspannungen in der Europäischen Union, die sehr kontrovers geführten Debatten in der Migrationspolitik. Dies Ringen erleben wir hier aus der Nähe.
Der Ampelbruch, ist das nun gut für die Republik oder hätte die Koalition noch bis September nächsten Jahres durchhalten sollen?
Anne Gideon: Unsere Rolle als Kirche ist es nicht, Details der Koalitionsbildung und -entscheidung zu kommentieren. Wir beteiligen uns an den Diskussionen über entscheidende Themen: über Frieden, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Menschenwürde in Deutschland und an den Grenzen Europas, Entwicklungszusammenarbeit, Anfang und Ende des Lebens – um nur einige Themen zu nennen. Uns ist wichtig, dass diese Themen gut bearbeitet werden.
"Ich hoffe darauf, dass die besonnenen Kräfte sich zusammenschließen und dafür Sorge tragen, dass Politik in unserem Land konstruktiv bleibt."
Die Verdichtung der Ereignisse prasselt auch auf die Bürgerinnen und Bürger herab. Das ist schon etwas, was Angst machen kann. Übernimmt etwa bei der nächsten Wahl Rechtsaußen die Macht in Deutschland?
Anne Gideon: Angst ist keine gute Ratgeberin. Ich hoffe darauf, dass die besonnenen Kräfte sich zusammenschließen und dafür Sorge tragen, dass Politik in unserem Land konstruktiv bleibt. Darauf setze ich.
Also Augen zu und durch in den nächsten vier Jahren?
Anne Gideon: "Augen zu" ist keine Option. Aber ich finde wichtig, die Nerven zu behalten. Wir sind als Christinnen und Christen getragen von der Botschaft des Evangeliums. konstruktiv und hoffnungsfroh. Wir haben die Hoffnung in unsere Gegenwart einzuzeichnen, auch und gerade in angespannten Verhältnissen. Kirche bietet gute Verständigungsorte, Orte und Rituale zum Innehalten, in diesen Tagen zum Beispiel am Buß- und Bettag. Unsere Arbeit im politischen Berlin bietet neben allem Einsatz für einzelne Themen auch eine heilsame Unterbrechung. Damit dann gestärkt und besonnen weiter gestaltet werden kann.