TV-Tipp: "Solo für Weiss: Tödliche Wahl"

Fernseher vor gelbem Hintergrund
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4. November, ZDF, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Solo für Weiss: Tödliche Wahl"
Es ist ein beliebtes Gedankenspiel: Wie hätte sich das Leben verändert, wenn man an einem bestimmten Punkt eine andere Entscheidung getroffen hätte? "Man hat immer eine Wahl", heißt es in Krimis gern.

In der Regel wird tatsächlich niemand gezwungen, ein Verbrechen zu begehen, aber auch hier gibt es zumindest aus subjektiver Sicht oft keine andere Wahl. Das ist die Voraussetzung, wenn das Publikum für Kriminelle ein gewisses Verständnis empfinden soll. Vordergründig mögen solche Überlegungen im neunten Film mit Anna Maria Mühe als Kieler LKA-Kommissarin Nora Weiss erst mal keine Rolle spielen, aber sie sind die Basis dafür, dass ihre Suche nach Judith Novak (Alice Dwyer) kein gewöhnlicher Fall ist. 

"Tödliche Wahl" beginnt mit einem Überfall. Ein Lieferwagen blockiert die Fahrbahn, die Beifahrerin eines Geldtransporters steigt aus, um das Hindernis zu beseitigen, kurz drauf fallen zwei Schüsse; anschließend liegt der Fahrer der Sicherheitsfirma tot auf der Straße. Das Geld ist verschwunden, die Beifahrerin ebenfalls; offen ist allerdings, ob als Geisel oder als Komplizin. Selbst wenn sie unschuldig ist, hat sie jedoch einen erheblichen Fehler begangen, als sie ausgestiegen ist; deshalb will die Versicherung nicht zahlen. Was sich wirklich zugetragen hat, lässt Paul Salisbury in seinem ersten Drehbuch für "Solo für Weiss" clever offen, indem er die Ereignisse aus der Perspektive einer Ohrenzeugin schildert: Unmittelbar vor dem Ereignis hatte die Besitzerin des Unternehmens ihren Mann, den Fahrer, angerufen; alles Weitere musste sie hilflos mit anhören. 

Über der Handlung schwebt fortan natürlich die Frage, ob Judith Täterin oder Opfer ist, aber viel interessanter ist, was sich Ben Salawi (Camille Jammal), Noras Ermittlungspartner von der Kripo Lübeck, nach und nach zusammenreimt: Judith ist ehemalige Polizistin, sie und Nora haben einst nicht nur gemeinsam die Polizeischule Lübeck besucht, sondern sich auch ein Zimmer geteilt, wie die entsprechenden Rückblenden offenbaren. Nora behauptet zwar, sie sei nicht mit Judith befreundet gewesen, aber die Inszenierung ihrer Erinnerungen lässt den Schluss zu, dass sie im Gegenteil sogar mehr als bloß freundschaftliche Gefühle für die Kollegin empfunden hat; das rückt ihre Ermittlungen selbstredend in ein ganz anderes Licht. 

Ohne die Erinnerungsbilder wäre "Tödliche Wahl" in der Tat weitaus weniger reizvoll. So jedoch kommt es zur Konstellation "Gutes Mädchen, böses Mädchen". Beim ausführlichen Schlussdialog wird Judith sinngemäß sagen, sie habe Nora immer um ihren moralischen Kompass beneidet: Bei der Belehrung über den Umgang mit Asservaten steckt sie ein Tütchen Gras ein, außerdem hat sie ein Verhältnis mit Ausbilder Nico (Denis Moschitto). Zu Noras großer Verblüffung stellt sich raus, dass die beiden vor geraumer Zeit eine Familie gegründet haben. Nach der Ausbildung ist Judith zum Bundeskriminalamt gegangen, weil sie raus aus Lübeck wollte. Beim BKA wurde sie als verdeckte Ermittlerin eingesetzt. Warum sie den Polizeidienst quittiert hat und weshalb in ihrer Personalakte ein Zeitraum von zwölf Monaten der strikten Geheimhaltung unterliegt, beschert der Geschichte weitere überraschende Wendungen. Davon abgesehen ist Salawi überzeugt, dass Judith den Überfall gemeinsam mit Nico begangen hat. 

Dass "Tödliche Wahl" im Rahmen der Reihe und gerade gemessen an den ausgezeichneten ersten beiden Episoden von Thomas Berger (2016) dennoch  nur Durchschnitt ist, hat auch mit der Umsetzung durch Gunnar Fuß (Regie und Kamera) zu tun. Die Gestaltung verleiht dem Film zwar eine unterkühlte Anmutung, aber abgesehen von einigen Drohneneinsätzen ist die Inszenierung bestenfalls solide.

Gerade die für Reihenkrimis unvermeidlichen Befragungen sowie die Reviergespräche mit dem Vorgesetzten (Peter Jordan) entsprechen der gewohnten Routine, von den diversen Autofahrten der Ermittlerin ganz zu schweigen. Ihre Ausflüge nach Fehmarn und Lolland, wo sich Judith einmal im Jahr eine Auszeit genommen hat, sorgen dank der winterlichen Impressionen immerhin für eindrucksvolle Aufnahmen. Sehenswert ist der Film neben der Geschichte daher in erster Linie wegen der Kombination Mühe/Dwyer. Fesselnder als der ausführliche Schlussdialog vorm Finale, als Judith berichtet, wie’s wirklich war, sind die Rückblenden, in denen die beiden Frauen auf verblüffende Weise zwanzig Jahre jünger wirken, sowie eine faszinierende Traumsequenz, die wie ein Sinnbild für die alles entscheidende Frage wirkt: Kann Nora der früheren Freundin vertrauen?