Wahre Freunde meistern die Stürme des Lebens gemeinsam. So gesehen ist "Volle Kraft voraus", die erste von vier neuen Episoden aus der ARD-Reihe "Praxis mit Meerblick", vor allem eine Hommage an die Freundschaft.
Tatsächlich deutet anfangs nichts darauf hin, wie dramatisch sich die Ereignisse im letzten Akt entwickeln werden, als sich ein illustres Quartett zum gemeinsamen Segeltörn trifft. Ärztin Nora Kaminski (Tanja Wedhorn), ihr Exmann Peer (Dirk Borchardt), TV-Star Olaf Hummel (Alexander Schubert) und die einstmals beinahe berühmte Violinistin Christiane Schmider (Henny Reents) haben vor langer Zeit eine Wohngemeinschaft gebildet. Nach vielen Jahren kommt es endlich zum Wiedersehen. Chrissie hatte sich in einen Argentinier verliebt und war lange in Südamerika; nun lebt sie in Süddeutschland. Seltsamerweise ist sie jedoch nicht, was naheliegend wäre, mit dem Zug nach Rügen gekommen, sondern mit der Fähre; ein erster kleiner Hinweis darauf, das was nicht stimmt.
Dort, auf der Fähre, beginnt die Handlung von Film Nummer 23 aus der 2017 gestarteten Reihe auch: Ein kleiner Junge bittet die Musikerin, ihm etwas vorzuspielen. Sie reagiert zunächst betroffen, holt dann jedoch ihre Violine aus dem Instrumentenkasten; prompt wird sie von den fasziniert lauschenden Fahrgästen umringt. An Land kommt es zu einem folgenschweren Ereignis: Chrissie wird von einem Schwindel erfasst, der Geigenkoffer mit der einst vom Großvater vermachten Violine fällt auf die Straße und wird von einem Auto überrollt. Als die Musikerin später auf dem Segelboot kollabiert und sich dabei den Unterarm bricht, besteht Nora, die stets spürt, dass ein Mitmensch mehr als bloß eine kleine Schwächephase durchläuft, auf einer gründlichen Untersuchung.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Stammpublikum von "Praxis mit Meerblick" geht ohnehin davon aus, dass die Geigerin ein ernstes Problem haben muss. Es gehört schließlich zum Muster der Reihe, dass die Symptome von Noras Schutzbefohlenen zuverlässig echte medizinische Herausforderungen darstellen: Chrissie leidet unter erheblichen Herzrhythmusstörungen und gelegentlichen Magenschmerzen. Die Ärztin und ihre Klinikkollegin Maja Pirsich (Anne Werner) tappen allerdings völlig im Dunkeln, was die Ursache sein könnte, zumal sie mit ihren ersten Diagnosen – eine Infektion durch einen Parasiten, ein Hirninfarkt? – komplett daneben liegen. Die Erklärung für die Krankheit ist ebenso simpel wie verblüffend, für das Trio aber dennoch erschütternd.
Abgesehen von dem Vorfall mit der Geige lässt Reihenschöpfer Michael Vershinin die Geschichte jedoch entspannt beginnen. Auch die angenehm gefällige Musik (Jan Janssons) lässt erst mal nicht erahnen, dass es schließlich um Leben und Tod gehen wird. Stattdessen sorgen diverse kleine Heiterkeiten für allerlei Kurzweil. Das gilt vor allem für die Szenen mit Alexander Schubert.
Schauspieler Olaf, Lebensdevise: "Immer krank stirbt nicht", ist ein bekennender Hypochonder, der auf Peers Segelschiff bereits seekrank wird, als das Boot noch fest vertäut am Steg liegt und kein Wind die Wellen kräuselt.
Stets für komische Momente gut sind auch die Nebenebenen mit Noras mütterlicher Freundin Roswitha (Petra Kelling) und ihrem unerklärten Lebensgefährten (Michael Kind). Diesmal kommen die beiden ins Spiel, weil Doktor Heckmann (Patrick Heyn), der ärztliche Klinikleiter, für 6.000 Euro ein Gemälde der Künstlerin Sophie Metz erstanden hat. Vershinin nutzt diesen Handlungsstrang für einen Ausflug in künstlerische Gefilde: Prominente Malerinnen und Maler haben sich schon immer gern vorübergehend auf Rügen niedergelassen; auch die (fiktive) Sophie Metz. 1932, wie die Signatur verrät, kann sie dieses Bild jedoch unmöglich gemalt haben. Eine Röntgenaufnahme offenbart ein zweites Gemälde. Zumindest Krimifans wird nicht überraschen, weshalb sich Roswitha so sicher ist, dass es sich bei dem Kunstwerk um eine Fälschung handeln muss.
Weniger lustig, jedenfalls aus seiner Sicht, ist ein Missgeschick von Noras Freund: Max (Bernhard Piesk) probt ausgerechnet beim Kajakpaddeln einen Heiratsantrag, Ring inklusive; ein Leichtsinn, der sich prompt rächt, zum Schluss aber immerhin auch für ein kleines Wunder sorgt. Jenseits der vielen kleinen unterhaltsamen Geschichten erfreut der Film nicht zuletzt durch seinen unausgesprochenen Appell: Sämtliche Figuren gehen ausgesucht achtsam miteinander um; die gelebte Empathie ist vorbildlich. Vershinins von Jan Růžička in gewohnt guter handwerklicher Qualität umgesetztes Drehbuch kommt zudem komplett ohne Antagonisten aus: Einziger Gegenspieler ist die mysteriöse Krankheit.