Bielefeld (epd). Infolge von Vorwürfen mangelnder Transparenz bei der Aufklärung eines mutmaßlichen Missbrauchsfalls ist die Theologin Annette Kurschus von ihren Spitzenämtern in der evangelischen Kirche zurückgetreten. Sie gebe sowohl den Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als auch das Amt als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen auf, erklärte Kurschus (60) am Montag in Bielefeld. Vertreter der EKD bekräftigten ihr Vorhaben, sich weiter für die unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt einzusetzen.
Hintergrund für den Rücktritt sind Vorwürfe gegen Kurschus, sie sei nicht transparent mit einem mutmaßlichen Fall sexualisierter Gewalt umgegangen. Im Mittelpunkt des Falls steht ein ehemaliger Kirchenmitarbeiter aus Kurschus' altem Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein, der junge Männer sexuell bedrängt haben soll. Die „Siegener Zeitung“ hatte zuerst über den Fall berichtet. Die Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt, geht aber derzeit nicht von einer strafrechtlichen Relevanz der Taten aus, die zum Teil auch verjährt sein könnten.
Kurschus kennt den Mann, der heute im Ruhestand ist, nach eigenen Angaben sehr gut. Sie erklärte am Montag, sie sei lange mit der Familie befreundet gewesen. In Siegen war sie ab 1993 als Gemeindepfarrerin und später als Superintendentin tätig. In einem Dienstverhältnis habe sie nie zu dem Beschuldigten gestanden. Strittig ist, wann Kurschus von dem Verhalten des Mannes erfuhr.
Statt um die Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren Schutz gehe es seit Tagen ausschließlich um ihre Person, sagte Kurschus. „Das muss endlich aufhören.“ Um dieser Aufklärung nicht im Wege zu stehen und bereits erlangte Erfolge dabei nicht zu gefährden, ziehe sie diese Konsequenz. In der Sache sei sie mit sich im Reinen, betonte sie. Dieser Schritt falle ihr nicht leicht. Sie habe sich für beide Ämter mit Leidenschaft und Herzblut eingesetzt - und mit „Redlichkeit“, die sie sich von niemandem absprechen lasse.
Kurschus kam 2012 als westfälische Präses ins Amt, 2021 wurde sie zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt. Den EKD-Ratsvorsitz übernimmt ihre bisherige Stellvertreterin, die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs (62), ab sofort kommissarisch.
Fehrs kündigte an, Missbrauchsvorwürfe in Kirche und Diakonie weiter konsequent aufklären zu wollen. „Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir uns als Kirche nicht mit uns selbst beschäftigen“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). In den kommenden Wochen sollen Gespräche mit dem Beteiligungsforum, mit der EKD-Synode und den Landeskirchen geführt werden, um die Vorkommnisse aufzuarbeiten und um Vertrauen zurückzugewinnen. Die Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD erklärten, Kurschus' Entscheidung schütze die Arbeit des Forums vor weiteren Belastungen.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, nannte Kurschus' Rücktritt folgerichtig. Sie teile die Einschätzung, dass die Debatte um die Person Kurschus' die Kommunikation über die Schritte der institutionellen Aufarbeitung nicht überlagern dürfe. Dennoch halte sie es für „schwierig“, wenn allein der öffentliche Druck als Kriterium für einen Rücktritt gelte. „Wir brauchen klare Kriterien für alle Ämter im Umgang mit Missbrauchsfällen in der Vergangenheit“, sagte Claus dem epd.
Die EKD steht in den kommenden Wochen vor wichtigen Schritten bei der Missbrauchsaufarbeitung. Am 13. Dezember soll mit Claus final die „Gemeinsame Erklärung über eine unabhängige Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie nach verbindlichen Kriterien und Standards“ unterzeichnet werden. Die Verhandlungen über eine solche Erklärung waren in den vergangenen Jahren zäh verlaufen. Claus sagte, bei dem Termin für die Unterzeichnung bleibe es.
Zudem wird Ende Januar die erste EKD-weite Missbrauchsstudie externer Wissenschaftler vorgestellt. Sie soll unter anderem konkrete Zahlen über Missbrauchstaten in allen 20 Landeskirchen und der Diakonie enthalten. Der Betroffenen-Sprecher im EKD-Beteiligungsforum, Detlev Zander, der im wissenschaftlichen Beirat der Studie sitzt, hatte dem epd Mitte November gesagt, die Studie werde wehtun.