Bei einem Jungen, der im Mainzer Domchor mitgesungen hatte, klingelten 1984 Kriminalbeamte an der Haustür. Zuvor waren Chorleiter und Kantor wegen zahlreicher schwerer Fälle sexueller Gewalt festgenommen worden. Der junge Sänger wurde von der Polizei verhört und sagte als Zeuge in dem Prozess gegen die beiden Männer aus, die zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. "Die Kirche hat sich nie gemeldet", gab der Betroffene im Gespräch für die Missbrauchsstudie des Bistums Mainz an. "Ich bin wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen worden."
Der Theologie-Professor Karl Lehmann (1936-2018) hatte das Amt des katholischen Bischofs von Mainz gerade erst angetreten, als der Missbrauchsskandal im Mainzer Domchor die Region erschütterte. Über Jahre hinweg waren Jungen aus dem Chor missbraucht worden. Unter Lehmanns Vorgänger Hermann Volk waren erste Hinweise auf Taten im Umfeld des Chors ignoriert worden. Während die Opfer auch später über völliges Desinteresse seitens der Bistumsleitung klagten, spürten die Täter in vielen Fällen die Fürsorge der Kirche. Lehmann selbst vermittelte einen Freiburger Anwalt für das Revisionsverfahren, stand im Austausch mit beiden Verurteilten. Das Bistum engagierte sich für ein Gnadengesuch.
In ihrer umfassenden Studie zu Missbrauchsfällen im Bistum Mainz haben der Regensburger Anwalt Ulrich Weber und sein Co-Autor Johannes Baumeister erstmals die dunklen Seiten von Lehmanns über 30-jähriger Amtszeit ausgeleuchtet. Fünf Jahre nach dem Tod des weit über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus geschätzten und geachteten Theologen kommen sie zu wenig vorteilhaften Ergebnissen: Zwar habe sich das Bistum unter seiner Führung erstmals offen zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen bekannt, doch zwischen Reden und Taten habe weiter eine große Lücke geklafft. "Bischof Lehmann hat theologisch die sündhafte Kirche akzeptiert, aber daraus keine Schlüsse für eine angemessene Übernahme von Verantwortung gezogen", lautet ein Fazit der Untersuchung.
Treffen mit Betroffenen abgesagt
Das wird in dem knapp 1.200-seitigen Abschlussbericht umfassend dokumentiert. Unter Berufung auf zahlreiche, zuvor teils geheime Unterlagen und Gespräche mit Opfern und anderen Zeitzeugen ergibt sich ein Bild, dass der brillante Theologe sich trotz eines Wandels zum Ende seiner Amtszeit hin vor allem um das Ansehen der Institution Kirche sorgte.
So finden sich in den Unterlagen Schriftwechsel, in denen Betroffenen ein persönliches Treffen mit dem Kardinal zuerst versprochen, dann aber kategorisch abgesagt wurde. Als der Jesuitenorden 2010 das Ausmaß von Übergriffen in seinen Einrichtungen bei einer Pressekonferenz öffentlich einräumen wollte, kommentierte Lehmann die Ankündigung in einem internen Schreiben mit den Worten: "Wie kann man nur eine solche Dummheit machen!" Einem verurteilten Priester aus dem Odenwald, der zahlreiche Jugendliche aus einer Mädchengruppe missbraucht hatte, gewährte das Bistum ein großzügiges Darlehen, als er später auch noch wegen Veruntreuung eine hohe Geldstrafe zahlen musste. Auf kirchenrechtliche Verfahren wurde vielfach verzichtet.
Diese Haltung der einstigen Überfigur Lehmann beschäftigt auch die heutige Bistumsspitze. Die Bischofsweihe von Lehmann persönlich zu empfangen, habe er als Auszeichnung empfunden, erklärte sein Nachfolger Peter Kohlgraf. Und er fügte hinzu: "Ich habe Berichte in der Studie gelesen, die diesen Gedanken für mich jetzt schwierig machen." Es erschrecke ihn, dass ein eigentlich immer menschenfreundlicher Bischof im Umgang mit Betroffenen eine "unglaubliche Härte und Abweisung" gezeigt habe.
"Für mich ist ein Bild zerbrochen", erklärte auch der heutige Generalvikar, Weihbischof Udo Markus Bentz. Er muss sich inzwischen Fragen stellen, wieso er als zeitweiliger Bischofskaplan nichts davon mitbekommen habe, wie Lehmann mit Missbrauchsopfern umgegangen sei. Die Aufklärung der Missbrauchsfälle sei mit der Veröffentlichung der Studie nicht am Ende, versichert das Bistum.