Mit der Frage "Wisst ihr noch, wie es geschehen" beginnt ein Kirchenlied des Dichters Hermann Claudius (1878-1980) aus dem Evangelischen Gesangbuch. Weil es zu einer einfachen, aber schönen Melodie beschreibt, wie die Hirten "mitten in der dunklen Nacht" die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem erleben, wird es bis heute an Weihnachten in vielen Gemeinden gerne gesungen. Die nicht unproblematische Geschichte der 1939 erstmals veröffentlichten Verse ist den wenigsten bekannt. Sie wirft auch ein Schlaglicht darauf, wie selbst Weihnachtslieder für das totalitäre NS-Regime vereinnahmt wurden.
Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der hessen-nassauischen Landeskirche, findet es unpassend, "Wisst ihr noch, wie es geschehen" weiter im Gottesdienst zu singen. Das Lied atme den Geist der 1930er Jahre, argumentiert sie. Besondere Bauchschmerzen bereitet allerdings der Autor. Claudius, ein Urenkel des bekannten Lyrikers Matthias Claudius, hatte sich nicht nur in den Dienst der Diktatur gestellt und Zeilen wie "Herrgott, steh dem Führer bei, daß sein Werk das Deine sei" gedichtet. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fiel er nicht durch Selbstkritik auf.
Die Geschichte seines 1939 erstmals in einem kleinen Band veröffentlichten Weihnachtsliedes ist allerdings etwas komplizierter: Der Musikwissenschaftler Udo Wennemuth notierte in der "Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch", der Text zu "Wisst ihr noch, wie es geschehen" sei auf Anregung eines christlichen Verlegers entstanden, sich nicht mit der "liturgischen Aushöhlung" des Weihnachtsfestes abfinden wollte.
Nach dem Willen der nationalsozialistischen Machthaber sollte nämlich auch Weihnachten an die neue, herrschende Ideologie angepasst werden. Das hatte Auswirkungen sogar auf die gebräuchlichen Lieder. Zunächst ließ das Regime alle Spuren tilgen, die auf die jüdischen Wurzeln des Christentums hinwiesen.
Lieder wurden in NS-Zeit umgedichtet
"Wir singen das Lied der Väter, wir singen Lieder der Zeit, aber wir singen deutsch, auch als Christen nur deutsch", notierte der regimetreue Bremer Landesbischof Heinz Weidemann 1939 im Vorwort für das "Gesangbuch der kommenden Kirche". Bei dessen Zusammenstellung wurde nicht nur "Tochter Zion" aus dem Liederkanon entfernt, auch zahlreiche andere Weihnachtslieder erhielten eine neue Fassung. So hieß es in "Es ist ein Ros entsprungen" plötzlich nicht mehr "von Jesse kam die Art", sondern "vom Himmel kam die Art".
Kurioserweise hätten die Vertreter der NS-Ideologie dabei teilweise sogar auf bereits vorhandene Textversionen aus der Zeit der Aufklärung zurückgreifen können, berichtet Christiane Schäfer vom Gesangbucharchiv der Universität Mainz. Denn schon damals seien - freilich mit gänzlich anderer Intention - Textvarianten entstanden, in denen schwer verständliche Begriffe ersetzt worden seien. "Man muss sich bewusst sein, dass Kirchenlieder eine Rezeptionsgeschichte haben", sagt sie. "Das ist nicht wie bei einem Goethe-Gedicht."
Idealerweise wollte das NS-Regime dem Weihnachtsfest aber seinen christlichen Kern ganz rauben. Winter, Wald und das Andenken an die Vorfahren sollten stattdessen ins Zentrum gerückt werden - teilweise sogar mit nachhaltigem Erfolg. Das in der NS-Zeit entstandene und stark propagierte Lied "Hohe Nacht der klaren Sterne" wurde auch in der Nachkriegszeit weiter von Interpreten wie Heino gesungen. Und der ursprünglich zutiefst christliche Inhalt des Schweizer Sternsingerliedes "Es ist für uns eine Zeit angekommen" ist inzwischen nahezu ganz in Vergessenheit geraten - im Gegensatz zur Umdichtung aus der Nazi-Ära, in der eine Winterwanderung beschrieben wird.
In diesem Kontext fallen wiederum die schlichten Verse des NS-Dichters Claudius über die Hirten in Bethlehem aus dem Rahmen, ihnen fehlen auch völkische Elemente ganz. Aktuell arbeiten Experten aus Deutschland und Österreich an einer Überarbeitung des in den 1990er Jahren eingeführten Evangelischen Gesangbuchs. Auch Christa Kirschbaum ist Mitglied der Kommission, die über den Inhalt entscheidet. Ob das Weihnachtslied von 1939 dort noch einmal zu finden sein wird, sei noch unklar, sagt sie.