Die Johannespassion war 1724 Bachs erste und 1749/50 wahrscheinlich letzte Leipziger Karfreitagsmusik. In den 25 Jahren dazwischen hat er mit seinem Werk gerungen. Es gibt mehrere Fassungen. Die Johannespassion ist somit Quintessenz alles seines Könnens. "Genial ist bei der Johannespassion sicherlich, dass sie die ganze Gefühlswelt eines Menschen bedient. Wir haben Klage, wir haben Trauer, wir haben das Gefühl tiefster Verlassenheit. Wir haben aber auch Trost. Wir haben Erregung. Wir haben zum Teil auch Freude drin. Oder zumindest Hoffnung. Also die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle ist darin vertont. Das ist einfach große Musik", sagt der evangelische Pfarrer und Chorsänger Axel Töllner.
Mit seinem Urteil steht der Theologe nicht allein. Denn Johann Sebastian Bach ist nicht einfach nur irgendein Kirchenmusiker. Vielen gilt er als der größte evangelische Komponist des europäischen Barocks. Manche bezeichnen ihn gar als den "fünften Evangelisten". Der evangelische Theologe Axel Töllner singt nicht nur Bach, er setzt sich auch beruflich mit ihm auseinander, denn er ist auch Beauftragter für den christlich-jüdischen Dialog in seiner bayrischen Landeskirche.
Es geht um Rezitative biblischer Personen wie Jesus, Pontius Pilatus oder Petrus. Hinzu kommen Arien. Und Passionschoräle, denen nicht nur andachtsvoll gelauscht wurde, sondern die durchaus auch als Mitsingstücke für die Gemeinde gedacht waren. Bei aller Raffinesse des kompositorischen Vermögens gibt es bei Johann Sebastian Bach auch Fragezeichen. Denn gerade in seinen Passionen werde "wider die Jüden" auch eine gehörige Portion Antijudaismus transportiert, sagt Axel Töllner.
"Wider die Jüden" transportiert Antijudaismus
Johann Sebastian Bach hat für seine Passion das Johannes-Evangelium als Text-Grundlage genommen. Dieses letzte kanonische Evangelium ist mit einer zeitlichen Distanz zur eigentlichen Kreuzigung und zum Leben Jesu entstanden, etwa 90-100 nach Christus. Hier werden "die Juden" oft als feindliches Gegenüber zur eigenen christlichen Gemeinde dargestellt. Der johanneischen Theologie kann somit ein latenter Antijudaismus attestiert werden. Es sind antijudaistische Aussagen, auf die sich genau Johann Sebastian Bach bezieht.
"Wenn im Johannesevangelium die eigenen Gläubigen als Abrahamskinder bezeichnet werden, die Gegner aber dann pauschal DIE Juden heißen und als Kinder des Teufels bezeichnet werden, dann ist das schon ziemlich drastisch. Und das hatte dann in der Folge wirklich verheerende Wirkungen gehabt", sagt Axel Töllner.
Massenchöre inszenieren Hass und Feindseligkeit
Im Passionsgeschehen bekommt die Gruppe mit "die Jüden aber schrien" bei Bach eine prominente Rolle. Die Juden stechen durch ihre feindselige Haltung hervor. "Es sind vor allem diese Massenchöre, die auf eine sehr wirkungsvolle Weise den Hass und die Feindseligkeit inszenieren und wo Bach dann auch wirklich alle Register zieht, um die Emotionen dieser Menge zum Ausdruck zu bringen", analysiert der Theologe Axel Töllner.
Oder eben wenn Bach Passagen gegen den Hohen Rat der Priester von Jerusalem einfügt und diese jüdischen Theologen als "gottlose Leut" verunglimpft. Fast schon kein Wunder, hörten die Gläubigen am Karfreitag diese Musik nicht nur im Gottesdienst, sondern nahmen die Texte auch inbrünstig auf. Daraus erwuchs eine Passionsfrömmigkeit mit brutalen Ausschreitungen gegen Juden, wenn auch nicht in Bachs Wirkungsstätte Leipzig. Denn in Leipzig gab es keine jüdische Gemeinschaft.
"Aber bis ins 20. Jahrhundert sind Karwochen-Progrome belegt. Die Leute hatten durch die Andachten, Gottesdienste, die sie gehört hatten, das Gefühl, wenn sie jetzt rausgehen und die örtliche jüdische Gemeinschaft verprügeln, ein gutes Werk zu tun. Dass ist eben für Jüdinnen und Juden bis heute ein Trauma, dass diese Passionsfrömmigkeit zu physischer Gewalt und zu Exzessen geführt hat", weiß Axel Töllner. Töllner betont aber, dass diese brutale Passionsfrömmigkeit gegen Juden keine allein evangelische Angelegenheit war, sondern solche Karwochen-Progrome durchaus auch in katholischen Gegenden stattfanden.
Die Johannes-Passion wird bis heute aufgeführt, wie die nicht minder berühmte Matthäus-Passion mit ebenfalls problematischen antijüdischen Textstellen. Aber geht das so einfach? Der bayrische Landeskirchenbeauftragte für den christlich-jüdischen Dialog kann sich nicht vorstellen, dass man auch angesichts des wieder grassierenden Antisemitismus in Deutschland diese Werke einfach so aufführt.
Antijüdische Textstellen ersetzen
"Man kann Bildungsarbeit in der Gemeinde machen, Vorträge. Man kann eine Gottesdienstreihe machen in der Passionszeit, wo man dieses Thema behandelt. Man kann in das Programmheft entsprechende Dinge hineinnehmen. Man kann das Konzert so gestalten, dass man die Johannes-Passion mit einem anderen Stück kontrastiert. Oder dass man einen geistlichen Vorspruch macht. Ich glaube schon, dass man die Johannes-Passion so aufführen kann, wie sie ist, aber man muss sie auf jeden Fall kommentieren und kontextualisieren", wünscht sich Axel Töllner. Dabei müssen Kantoren und Chöre nicht bei null anfangen.
So hat das Zentrum Verkündigung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau auf seiner Webseite eine umfangreiche Materialsammlung mit Empfehlungen zusammengetragen. In der Aufführung sollte demnach bewusst der Originaltext "Die Jüden" gesungen werden, um den historischen Abstand deutlich zu machen. Problematische antijüdische Textstellen könnten dadurch kommentiert werden, dass der Chor eine Hand vor den Mund hält, sich zur Seite dreht oder die Hand vor die Augen hält. Antijüdische Textstellen könnten auch durch Seufzen oder Stöhnen begleitet oder gar ersetzt werden.
Letztendlich aber, sollte man die Passionen überhaupt noch aufführen? Der evangelische Theologe meint Ja! Ein Verbot von Johann Sebastian Bachs Musik sei wenig hilfreich. Vielmehr müsse man diese genialen Werke kongenial mit dem heutigen Wissen um die eigene Schuld gegenüber den Juden kontrastieren, fordert der Beauftragte für den christlich-jüdischen Dialog in der bayrischen Landeskirche Axel Töllner.