Menschliches Leben ist verbundenes Leben – wir leben auf dieser Erde nicht allein. Wir sind Mitgeschöpfe, leben neben anderen Geschöpfen, Tieren, Pflanzen und Bäumen. Wir leben "...inmitten von Leben, das leben will", wie es Albert Schweitzer treffend formuliert hat. Aus dieser Erfahrung des Verbundenseins entsteht eine Haltung der "Ehrfurcht vor dem Leben".
Als Menschen sind wir eingebunden inmitten von Leben, wir sind Teil im Ganzen. So kann es eben nicht länger der Weg sein, unsere Erde als bloße Ressource zu verstehen, die über das Maß verbraucht werden kann.
Der Weg liegt in einem neuen Verständnis von Mensch und Natur. Mit Blick auf unser gegenwärtiges Leben bedeutet dies, dass wir heute zeitgleich "Sterbebegleiter einer alten Geschichte und Geburtshelfer einer neuen" (Geseko von Lüpke) sind.
Wir sind Sterbegleiter, indem wir die Geschichte der Trennung von Mensch und Natur aufhören zu erzählen. Und wir sind Geburtshelfer einer neuen Sichtweise auf unser Leben: Der Verbundenheit mit und in allem. Ein Weg hin zu einem veränderten Naturverhältnis und Menschenbild ist auch eine spirituelle Aufgabe: Gottes Geist durchdringt, belebt und erhält unsere Erde, alles was lebt, lebt aus ihm und in ihn.
Ein ungeheures Kraftfeld
Jörg Zink beschreibt diese Erfahrung so: "Gott, so meinte ich auch damals schon, sei nicht nur mir gegenüber, sondern vor allem um mich her, und ich lebte in ihm wie der Fisch im Meer oder der Vogel in der Luft. Ich wußte mich schon als Kind auf eine kaum beschreibbare Weise von ihm umgeben wie von allen Dingen und Elementen dieser Welt. Ich war mir sicher: Ich brauchte nicht zu ihm zu reden. Er war um mich, und er war in mir, und wie jedes Blatt an einem Baum sein Ort war, so war auch jeder Gedanke in mir Ort seiner Gegenwart.
[…] Ich betrachte also einen Stein und sehe in ihm einen Wohnort Gottes. Einen Busch. Das Wasser im Bach. Ich fühle mit dem Stein in der Hand die Schwere Gottes, in einem Baum seine Kraft, in der Erde seine Verläßlichkeit. Im Wind seine Ferne und vorüberflutende Nähe. In der strahlenden Sonne seine Wärme. In der Nacht seine abgründige Dunkelheit. Ich stehe in einem ungeheuren Kraftfeld und nehme seine Kräfte auf, denn jedes Ding ist mehr als ein bloßes Ding. Es ist Ort Gottes und hat sein Wesen aus ihm."
Die Wahrnehmung üben
Was Jörg Zink beschreibt ist ein verändertes Verhältnis zur Natur: Sie ist Raum und Ort, in dem der Mensch Gottes Spuren erfahren und aufatmen kann. Diese Haltung braucht der Einübung: Manfred Gerland, Pfarrer für Meditation und geistliches Leben, veröffentlichte 2021 das Buch "Aufatmen. Die Spiritualität der Natur entdecken." Gerland nimmt die Sehnsucht nach Bewegung und Aufatmen in der Natur auf und legt ein Buch vor, das er Naturbegeisterten, Pilgerinnen und Pilgern, spirituell Suchenden und allen, die Natur neu entdecken möchten, als Praxisanleitung in die Hand gibt.
Die Übungen leiten dazu an, die Natur bewusst wahrzunehmen und die Spiritualität, die sie in sich trägt. Mit zahlreichen Texten aus Lyrik, jüdisch-christlicher Tradition und Gegenwartsliteratur gelingt es Manfred Gerland, aufzuzeigen, dass die Natur mit eigener Stimme spricht. Der Mensch muss das Hören neu lernen. Sich selbst zurücknehmen und hören, welche Stimme die Natur spricht - die Erfahrung von Natur-Resonanz.
Ohne Leistungsanspruch
Das Sein in der Natur eröffnet auch Räume, um sich selbst als Mensch zu verwurzeln. Die Übungen, die Manfred Gerland beschreibt - das Meditative Gehen, den eigenen Atem wahrzunehmen, aufmerksames Hören oder einen Tag im Wald zu verbringen - leiten zu einem veränderten Natur- und Menschenbild an. Es braucht hierzu, davon ist er überzeugt, die Unterbrechung, einen Ortswechsel.
Die eigenen Wände verlassen, eine grüne Gegend aufsuchen und in der Natur, ohne Leistungsanspruch, das Göttliche wahrnehmen. Manfred Gerland widmet dem Lied "Gott ist gegenwärtig" von Gerhard Tersteegen, reformierter Pietist und Mystiker, ein eigenes Kapitel. Die sechste Strophe des Liedes lautet: "Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte. Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen."
Gott selbst dürstet nach Wasser
Manfred Gerland leitet diese Strophe als Achtsamkeitsübung an: "Achtsamkeit – im Hier und Jetzt Gott begegnen, wie die Sonne das Gesicht bescheint, wie die Blumen der Sonne stillhalten – das ist das Ziel der Übung im Gebet. Durch dieses Sein in der Gegenwart Gottes geschieht Veränderung. Sanfter Friede kehrt ein und ordnet die Affekte und Emotionen."
Veränderungen braucht es dringend – die spirituelle Dimension des Lebens gibt dafür wichtige Impulse: Das Leben in seiner Verbundenheit wahrzunehmen und zu achten. Gott selbst ist es, der seufzt und dürstet nach Wasser. Jürgen Moltmann ist sich sicher: "Wir brauchen endlich eine neue kosmische Spiritualität, die das gelebte Leben heiligt und Ehrfurcht vor dem Leben in allem Lebendigen erweckt." In einer spirituellen Lebensweise liegt die Kraft zum Widerstand und die Geschichte einer neuen Zeit: Sei das der Weg zu einem verbundenen Leben, mit allem Lebenden auf dieser Erde. Fangen wir vor der Haustür an!
Pastor Günter Hänsel bezieht sich in seinen Gedanken auf das Buch "Aufatmen - die Spiritualität der Natur entdecken" von Manfred Gerland. Es ist bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig in der Edition chrismon erschienen.