TV-Tipp: "Wirecard – Die Milliardenlüge"

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7. Dezember, ARD, 22.50 Uhr
TV-Tipp: "Wirecard – Die Milliardenlüge"
Auch knapp eineinhalb Jahre nach der Wirecard-Insolvenz ist der Skandal immer noch unfassbar. Mindestens so unerhört wie der systematische Betrug des Unternehmens ist die vorsätzliche Fahrlässigkeit, mit der die Aufsichtsbehörden Hinweise auf Unregelmäßigkeiten ignoriert haben.

Zu den vielen bizarren Fußnoten der Geschichte gehört unter anderem die Dreistigkeit, nicht die Drahtzieher juristisch zu verfolgen, sondern die Hinweisgeber. Nach diversen Büchern, Dokumentationen und dem Dokudrama "Der große Fake – Die Wirecard-Story" (RTL 2021) folgt nun der knapp hundert Minuten lange Dokumentarfilm "Wirecard – Die Milliardenlüge", eine Koproduktion von Sky, Arte und mehreren ARD-Sendern.

Der Unterschied zu den anderen Arbeiten über den größten bundesdeutschen Finanzskandal liegt vor allem in den Kronzeugen: Es ist Benji und Jono Bergmann gelungen, gleich mehrere "Whistleblower" als Kronzeugen vor die Kamera zu holen, Menschen also, die einst führende Positionen in der Firma ausgeübt haben und damit gescheitert sind, die vermeintlich unwissende Führungsebene auf Ungereimtheiten hinzuweisen. Erfrischendste Gesprächspartnerin des österreichischen Brüderduos ist trotzdem die "Wirtschaftswoche"-Journalistin Melanie Bergermann: Weil sie in der Lage ist, komplizierte Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, und sich dabei gern auch einer umgangssprachlichen Wortwahl bedient ("Hammer!"), wenn andere Formulierungen viel zu schwach wären, um die ganze Ungeheuerlichkeit des Vorgangs zu beschreiben.

Wichtigstes Qualitätsmerkmal des Films ist die kluge Reduktion der enormen Komplexität dieses milliardenschweren Betrugs, der unzählige Kleinanleger um ihre Altersvorsorge gebracht hat: Im Juni 2020 musste der Vorstandsvorsitzende, Markus Braun, zugeben, dass ein vermeintliches Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro schlicht nicht existierte. Die Bergmann-Brüder versuchen gar nicht erst, die kaum überschaubare Firmenstruktur zu entschlüsseln; das Organigramm eines Bloggers, der schon vor zwanzig Jahren spürte, dass bei dem Unternehmen irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht, sieht aus wie ein Spinnenetz. Das Duo erzählt zwar, wie Wirecard durch Zahlungsabwicklung für Pornoseiten und Online-Gambling groß geworden ist, konzentriert sich ansonsten aber auf die Bemühungen von innen wie von außen, Licht ins Dunkel zu bringen. Die Geschichte ist ohnehin derart absurd, dass ein Drehbuchautor nie damit durchgekommen wäre, aber mindestens so empörend wie der Skandal selbst ist die Blindheit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Offenbar war man bei der BaFin besoffen vor Glück, dass einem deutschen Unternehmen der Vorstoß in die Elite der globalen Tech-Konzerne gelungen war; anders ist es nicht zu erklären, dass sämtliche Hinweise auf illegale Machenschaften im Sande verlaufen sind.

Einige Kapitel des Films sind der trockenen Materie zum Trotz spannend wie ein Thriller, weil Wirecard bei Vorwürfen stets umgehend zum Gegenschlag ausholte. Ein ehemaliger Boxer erzählt bereitwillig und sogar mit gewissem Stolz, wie er im Auftrag des Unternehmens einen Investor eingeschüchtert hat. Der Mann hatte geahnt, dass die Zahlen des Konzerns nicht stimmen können, und darauf gesetzt, dass der Aktienkurs fällt; prompt wurde er der Kursmanipulation bezichtigt. Fassungslosigkeiten dieser Art ziehen sich durch den gesamten Film: Männer und Frauen geben der deutschen Finanzaufsicht Hinweise auf Bilanzfälschungen, Geldwäsche und Korruption, aber prompt werden nicht die wahren Verbrecher, sondern die Überbringer der schlechten Nachrichten zu Schurken erklärt.

"Wirecard – Die Milliardenlüge" ist über weite Strecken fesselnd, temporeich und voller Abwechslungen. Weil die führenden Köpfe – Konzernchef Braun ist in Haft, seine rechte Hand, Jan Marsalek, ist auf der Flucht – nicht zur Verfügung standen, tauchen die beiden Männer zwischendurch auch mal als moderat animierte Figuren auf. Trotzdem geht dem Film am Ende etwas die Luft aus. Wichtigster Zeuge der Bergmanns ist der Chefjustiziar des Konzerns für den asiatisch-pazifischen Raum. Der Mann hat viele interessante Details zu berichten. Warum das Duo seiner Mutter ebenso viel Zeit einräumt, bleibt allerdings ein Rätsel. Der Ausflug nach Singapur wirkt ohnehin, als sei hier jemand anders am Werk gewesen: Wenn die Mutter beim Einkaufen begleitet wird, ist das schlicht Zeitverschwendung. Sehenswert ist der Film dennoch: als Verbeugung vor all’ den Unbeugsamen, die sich weder durch Drohungen noch durch Nachstellungen einschüchtern ließen.