epd: Wie stellt sich die Lage in den Pflegeheimen der Diakonie Mitteldeutschland aktuell dar?
Christoph Stolte: Die Lage verschärft sich täglich. In immer mehr Pflegeheimen und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung erkranken Bewohnerinnen und Bewohner an Covid-19 oder werden positiv auf das Virus getestet. Zugleich betrifft das auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Beispielsweise waren am Mittwoch in einem Pflegeheim im Südharz 30 von 70 Bewohnern erkrankt und nur noch 19 von 52 Mitarbeitenden im Dienst. Zudem sind viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach neun Monaten Pandemie am Ende ihrer Kräfte.
"Lage verschärft sich täglich"
Wie lässt sich unter diesen Bedingungen der Betrieb der Einrichtungen aufrechterhalten?
Stolte: Das Arbeiten in Schutzkleidung, viele Sonderschichten, die ständige Angst sich und andere zu infizieren, die Einsamkeit vieler Bewohner - all das bewältigen die Mitarbeitenden jeden Tag. Aber es setzt eine physische und auch psychische Erschöpfung ein. Wir wissen nicht, wie wir in einigen Einrichtungen die Dienste in der kommenden Woche abdecken sollen. Teilweise kann auch nur durch "Arbeitsquarantäne" die Versorgung aufrechterhalten werden.
Das heißt?
Stolte: Es arbeiten auch positiv getestete Mitarbeitende auf Stationen mit Erkrankten.
Was könnten die Länder Sachsen-Anhalt und Thüringen tun, um die Lage zu entschärfen?
Stolte: Zuerst wäre wichtig, den Einrichtungen keine zusätzlichen Aufgaben zu übertragen. Die Mitarbeitenden können nicht noch die Schnelltests für Bewohner und Besucher durchführen. Dazu müssten Fachkräfte aus der Pflege abgezogen werden, was schlicht unverantwortlich ist. Auch die Erwartung, dass Impfteams zukünftig durch Personal der Einrichtungen begleitet werden, ist nicht erfüllbar. Die Personaldecke ist ohnehin an den Weihnachtstagen immer schon sehr knapp und in diesem Jahr wird sie zu kurz sein.
"Personaldecke an Weihnachtstagen zu kurz"
Könnte Hilfe von der Bundeswehr kommen?
Stolte: Wenn die Länder Sanitätspersonal der Bundeswehr anfordern würden, die die zusätzlichen Aufgaben übernehmen und auch die Fachkräfte in der Pflege durch Hilfsdienste unterstützen würden, wäre das eine große Hilfe. Allein reicht das aber nicht. Für die kommenden Wochen muss die Mindestpersonalausstattung und der Fachkräfteschlüssel aufgehoben werden, damit die Einrichtungsleitungen flexibel und schnell agieren können.
Was haben Sie dabei genau im Blick?
Stolte: In der Eingliederungshilfe wäre es hilfreich, wenn die Träger auch einzelne Angebote schließen dürften, um die Mitarbeitenden in den Wohneinrichtungen einsetzen zu können. Hier sind Menschen zu Hause und müssen immer betreut werden. In einer solchen Notlage darf der Träger aber nicht gleich durch Kürzung der Finanzierung bestraft werden. Verantwortliches flexibles Agieren der Träger muss von den Ämtern und den Ländern akzeptiert werden, ohne im Nachgang zu kritisieren, einzelne Vorschriften nicht eingehalten zu haben. Es geht in den kommenden Wochen um die Bewältigung einer Notlage, damit in Pflege- und Wohneinrichtungen alle Menschen versorgt sind.
"Geht um Bewältingung einer Notlage"
Ist aus Ihrer Sicht vielen Menschen der Ernst der Lage noch immer nicht klar?
Stolte: Die Lage in den Pflege- und Wohneinrichtungen hat sich in den vergangenen Tagen sehr zugespitzt. Da so viele Einrichtungen betroffen sind, kann keine Einrichtung die andere mehr personell unterstützen. Das scheint öffentlich noch nicht bekannt zu sein. Es wäre gut, wenn es eine breitere gesellschaftliche Unterstützung für alte Menschen und Menschen mit Behinderung gäbe. Es wäre auch gut, wenn Pflegekräfte, die derzeit nicht in diesem Beruf arbeiten, mitarbeiten würden.
Was müsste sich längerfristig ändern?
Stolte: Wir benötigen von allen Seiten der Gesellschaft Anerkennung der riesigen Leistung, die von Mitarbeitenden in den Pflege- und Wohneinrichtungen erbracht werden. Daran, wie wir mit Menschen im hohem Lebensalter und mit Behinderung umgehen, zeigt sich, dass wir die Menschenwürde wirklich ernst nehmen.