Bremen (epd). Laut einer Studie des Arzneimittel-Experten Gerd Glaeske werden bei der Behandlung von Menschen mit Demenz viel zu oft Psychopharmaka eingesetzt. "Das ist chemische Gewalt gegen alte Menschen", kritisierte Glaeske am Donnerstag in Bremen. Auffällig sei, dass dies vor allem in stationären Einrichtungen passiere, um Bewohner ruhigzustellen. Im Einzelfall könnten diese Medikamente helfen. Aber der übermäßige Einsatz in Heimen sei eine "nicht sachgemäße Substitution fehlender Pflegekräfte".
Bei der Untersuchung für die Bremer Handelskrankenkasse (hkk) unter dem Titel "Demenzreport 2020" handelt es sich Glaeske zufolge um eine nicht-repräsentative Studie unter Versicherten der hkk. Trotzdem habe sie grundsätzliche Bedeutung, weil sie mit den Ergebnissen anderer Studien übereinstimme, betonte der Bremer Gesundheitswissenschaftler. Er forderte überdies, den derzeit rund 1,6 Millionen Demenzkranken gesamtgesellschaftlich aufgrund steigender Betroffenenzahlen genauso viel Aufmerksamkeit entgegenzubringen, wie dies etwa bei Diabetes und Bluthochdruck geschehe.
Die Studie zeige, dass unterschiedliche Psychopharmaka und Schlafmittel, vor allem Neuroleptika und Benzodiazepine, zusammengenommen häufiger verordnet würden als Antidementiva. "Und das, obwohl Psychopharmaka bei Menschen mit Alzheimerdemenz mehr schaden als nutzen", sagte Glaeske.
Verordnet würden die Psychopharmaka in der Mehrzahl von Hausärzten, um etwa gegen demenztypische Verhaltensmuster wie Unruhe und Aggressivität vorzugehen. Ein wichtiges Ziel sei dabei, pflegende Angehörige und Pflegekräfte durch die Ruhigstellung zu entlasten. Es gebe aber keinen Grund, Demenzerkrankte mit konventionellen Neuroleptika zu behandeln: "Es ist nicht belegt, dass diese Medikamente Verhaltensstörungen bei den Betroffenen positiv beeinflussen."
Darüber hinaus verdichteten sich seit einigen Jahren die Hinweise, dass Neuroleptika bei Demenzerkrankten schwerwiegende unerwünschte Folgen wie etwa Herzinfarkt und Schlaganfall und einen rapiden Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit haben könnten. Mit einer insgesamt erhöhten Sterblichkeit sei zu rechnen. Glaeske: "Eine kurzfristige Anwendung ist lediglich dann vertretbar, wenn die Betroffenen ohne entsprechende Medikation eine unbeherrschbare Gefährdung für sich oder andere sind."
Glaeske forderte, statt einer chemischen Ruhigstellung auf aktivierende Pflege zu setzen, die in den Einrichtungen aber deutlich mehr Personal erfordere. Es komme darauf an, bei den Erkrankten so lange wie möglich Alltagsfähigkeiten zu erhalten und Erinnerungen aus ihrer früheren Lebenszeit zu bewahren. Außerdem müsse mehr auf Prävention etwa durch Bewegung, Ernährung, Bildung und Kommunikation gesetzt werden - "und zwar von Jugend an".