Bremen (epd). Mit Blick auf die jüngsten Corona-Proteste kritisiert der Bremer Konfliktforscher Stefan Luft die aktuelle Streitkultur in Deutschland. In der Gesellschaft fehle zunehmend die Bereitschaft, Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die von einem gewissen mehrheitlichen Konsens abweichen, sagte der Politikwissenschaftler an der Universität Bremen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Starke inhaltliche Debatten nähmen selbst in den Parlamenten ab: "Ich halte das für eines der zentralen Probleme unserer Zeit."
Diese Tendenz habe mehrere Ursachen, erläuterte der Politologe und Buchautor. Mit einem steigenden Bemühen um politische Korrektheit gehe die Diskussionsfreude auch an Universitäten seit den 1980er Jahren zurück: "Das sind aber gerade die Orte, an denen Debatten gelernt und eingeübt gehören." Gleichzeitig hätten in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen studieren können. Die zunehmende Akademisierung habe bestehende soziale Gegensätze weiter vertieft: "Manch einer, der sich jetzt zu den Eliten rechnet, rümpft über einfachere Leute die Nase."
Aus Angst, nichts Falsches zu sagen, versuchten viele, als problematisch empfundene Themen zu meiden oder bestimmte Aspekte auszuklammern. "Diese realen oder vermeintlichen Probleme verschwinden aber nicht von selbst, wenn wir sie einfach ignorieren", sagte der Forscher. Bei Teilen der Bevölkerung mache sich bereits "erhebliches Unbehagen" darüber bemerkbar. "Dieses Unbehagen muss sich artikulieren dürfen."
Luft warnte davor, die Protestierenden gegen die Corona-Maßnahmen pauschal zu diskreditieren, zum Beispiel indem man ihnen vorwerfe, sich nicht genug von rechtsextremen Teilnehmern abzugrenzen. Sie zur Distanzierung aufzufordern, sei natürlich berechtigt, betonte Luft. Nur lasse sich diese Forderung in der Praxis kaum umsetzen: "Sollten sie ein T-Shirt mit aufgedrucktem Distanzierungs-Spruch anziehen?" Die Verantwortung liege dagegen bei den Veranstaltern, Extremisten möglichst fernzuhalten.
Dabei werde aber oft mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen, stellte der Wissenschaftler fest. Bei einer Demonstration gegen Rassismus unter dem Motto "Unteilbar" hatten unlängst "eindeutig Linksextremisten" mitgemacht. Dies sei den anderen Teilnehmern allerdings nicht zur Last gelegt worden. Bei den oft als "Corona-Leugnern" abgestempelten Menschen handele es sich nicht in erster Linie um Verschwörungstheoretiker. Es seien darunter auch Teile der Mittelschicht, die aufgrund der Corona-Einschränkungen vor dem Zusammenbruch ihrer gesellschaftlichen Existenz stünden. "Die Corona-Hilfen kommen nicht dagegen an, wenn die Kunden langfristig ausbleiben."