Am Montag wurde der Chefredakteur einer AfD-nahen Zeitung zu sieben Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Als Wiederholungstäter hat er ein manipuliertes Foto gepostet, das Innenministerin Faeser mit der Nachricht zeigt: "Ich hasse die Meinungsfreiheit". Das Strafmaß erscheint hart, aber klar ist: Das Bild ist nicht Satire, sondern ein Brandstifter markiert ein Opfer, um den rechten Mob gegen Faeser aufzustacheln und um das Schlagwort der Redefreiheit politisch auszuschlachten.
Schon länger findet auf Facebook, X und Co krassestes Mobbing statt. So hatte ein deutsches Gericht 2022 Facebook gezwungen, Daten von Nutzern herauszugeben, die die Politikerin Renate Künast massiv und äußerst grob beschimpft haben. Laut Gericht stellen die unflätigen, aggressiven Äußerungen keine legitime, freie Meinungsäußerung dar.
Ein relativ neues EU-Gesetz sieht außerdem die Regulierung der sozialen Medien vor, und deutsche Gerichte bestrafen Hassrede im Internet teils deutlich. Das greifen andere wieder an: So werde die Redefreiheit untergraben. Dem verurteilten Publizisten springen Verbündete mit der Aussage bei, die Redefreiheit sei die Grundfeste der Demokratie. Diese Aussage stammt besonders aus dem rechtspopulistischen und rechtsradikalen Lager, das selbst Schwierigkeiten damit hat, die Redefreiheit anderer anzuerkennen.
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Was also ist von der Regulierung der sozialen Medien zu halten – geht sie zu Lasten der Meinungsfreiheit, oder rettet sie die Meinungsfreiheit gerade vor ihren Gegnern? Und was ist von bestimmten einzelnen Maßnahmen in der Regulierung der sozialen Medien zu halten, bei der Verurteilung des rechten Publizisten und bei anderen Maßnahmen?
Meinungsfreiheit oder Hetze?
Der US-Vizepräsident Vance kritisiert Europa dafür, dass es angeblich die Meinungs- und Redefreiheit nicht mehr respektiere. Deshalb wollten die USA Europa nicht mehr verteidigen. Die Listen der verbotenen Wörter, die Vance’ Regierung streichen lässt, wird unterdessen immer länger. Doch der Journalist, der für sein Faeser-Bild verurteilt wurde, hat Vance’ Signal an die deutsche Rechte verstanden: Das Stichwort Redefreiheit soll die Frontlinie definieren, an der die Rechten die demokratische Mitte weiter delegitimieren wollen.
Unterdessen fallen deutsche Rechtsradikale in den sozialen Medien durch Desinformation und grobe Beleidigungen auf, teils sogar durch offene Aufrufe zur Gewalt. Dem Mord an Walter Lübcke ging massive Verunglimpfung in den sozialen Medien voraus. Verschiedene Politiker ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, weil sie sich bedroht fühlen aufgrund der Online-Attacken.
Dagegen schrieb die EKD 2021 in einer Denkschrift, es sei "unerlässlich, dass der Gesetzgeber auf zivilgesellschaftliche Initiative hin die Macht dieser (sozialen) Netzwerke demokratisch kontrolliert." Hier geht es der EKD um das Neunte Gebot (oder, anders gezählt, das Achte Gebot): "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten." Wie bei den Zehn Geboten insgesamt gehe es auch bei diesem Gebot darum, Freiheit zu ermöglichen. Da die Digitalisierung und die Online-Kommunikation immer mehr unser Leben bestimmen, fragt die EKD, wie man vermeiden kann, dass Lügen und Verleumdung online überhandnehmen und so schließlich unsere freiheitliche Gesellschaft vergiften. Doch gerade eine solche demokratische Kontrolle der sozialen Medien ist umstritten. Rechtslastige Politiker und Aktivisten brandmarken das als Angriff auf die Meinungs- und Redefreiheit. Tatsächlich aber wollen sich die Rechten die Freiheit sichern, andere einzuschüchtern.
Keine Toleranz der Intoleranz
Wer die Redefreiheit sichern möchte, muss also die Radikalen eingrenzen, die andere einschüchtern und es ihnen unmöglich machen, von der Redefreiheit Gebrauch zu machen. Redefreiheit kann man sich nicht absolut vorstellen, nach dem Motto, je weniger Grenzen, desto besser. Denn immer mehr Aktivisten sehen ihre Redefreiheit darin, andere zu beleidigen, zu bedrohen und zum Schweigen zu bringen. Wer die legitimen Grenzen der Redefreiheit einreißt, schafft damit zugleich die Redefreiheit selbst ab.
Zum Thema Toleranz formulierte der Philosoph Popper "das Paradoxon der Toleranz" "Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz." Es dürfen die Intoleranten nicht die politische Macht gewinnen: Da sie eine repressive Politik verfolgen würden, darf eine freiheitliche Gesellschaft nicht vollkommen tolerant sein, also auch gegenüber den Intoleranten. Ebenso verhält es sich mit der Redefreiheit. Der Versuch einer völlig entgrenzten Redefreiheit geht zulasten der Opfer und hebt deren Redefreiheit auf. Gegenüber denen, die die Redefreiheit anderer mit ihrer Medienmacht plattwalzen, müssen wir die Redefreiheit beschränken, genauso wie wir intolerant sein müssen gegenüber denen, die machtvoll ihre Intoleranz durchsetzen.
Deutlich wird das beim Online-Bullying. Eine Studie aus den USA zeigt: Je mehr amerikanische Jugendliche in sozialen Netzwerken unterwegs sind, desto höher ist das Suizidrisiko aufgrund von Online-Bullying. Wer den Bullies und dem Mob absolute Redefreiheit zugesteht, macht sich zum Komplizen der Bullies und des Mobs. Dagegen loben die rechten Meinungsführer in Deutschland, etwa in der "Welt", dass Facebook in den USA jetzt Posts gar nicht mehr auf Richtigkeit oder Unbedenklichkeit prüft: Das sei "im besten – weil romantischen – Sinne" der neue "Wilde Westen". Die Eltern von Jugendlichen, die sich wegen Online-Bullying das Leben nehmen, finden den neuen Wilden Westen nicht romantisch.
Einschränkungen der Meinungsfreiheit
Manchmal scheint es aber, dass die demokratischen Verteidiger der Redefreiheit etwas plump vorgehen. Sieben Jahre Haft auf Bewährung für einen Journalisten, wegen Verleumdung, klingen tatsächlich harsch. Macht man so nicht einen Provokateur zum Märtyrer? Für Empörung hat auch gesorgt, wie Staatsanwälte Handys einsacken, um dem Vorwurf der Online-Verleumdung nachzugehen. Das Problem daran ist, dass sie das Handy manchmal sehr lange nicht oder womöglich gar nicht zurückgeben. Außerdem ist der polizeiliche Zugriff auf die Handydaten nicht rechtlich eingegrenzt auf diejenigen Daten und Anwendungen, die für die Aufklärung des spezifischen Verdachts notwendig sind.
Leider hat jetzt die neue schwarzrote Koalition den Satz in den Koalitionsvertrag aufgenommen, die "bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt." Zurecht weisen Union und SPD darauf hin, dass Desinformation und Hetze in den sozialen Medien die Demokratie bedrohen. Eine "staatsferne Medienaufsicht" müsse "unter Wahrung der Meinungsfreiheit" gegen den massiven Einsatz von Bots und Fake-Accounts vorgehen. So weit, so gut. Formaljuristisch stimmt es sogar, dass Artikel 5 des Grundgesetzes nicht mehr und nicht weniger schützt, als dass jeder "seine Meinung" frei äußern kann – also nicht bewusste Lügen. Doch mit der Andeutung, die Regierung könne womöglich pauschal gegen Lügen vorgehen, sind die Verhandler der neuen Koalition zu weit gegangen – damit würde ja eine sehr weitreichende Einmischung der Behörden ins Privatleben und in den Journalismus drohen.
Die internationale Bühne
Außerdem heißt es im Entwurf des Koalitionsvertrags, der "DSA" sei konsequent umzusetzen. Hier haben die Verhandler der Koalition meine volle Zustimmung. Es geht um den "Digital Services Act" der EU, also das Gesetz zu digitalen Diensten. Es verpflichtet Unternehmen zur Entfernung illegaler Inhalte und verlangt, dass Plattformen ihre Inhalte sorgfältig auf gefährdende oder illegale Postings prüfen. In Europa kann Facebook also nicht mit der Moderation der Inhalte aufhören wie in den USA. Volksverhetzer haben es damit schwerer, aber auch traditionelle Trickbetrüger, die Nutzern mit irreführenden Angeboten das Geld aus der Tasche ziehen.
Auf dieser Grundlage führt die EU gerade ein Verfahren gegen X. Es kursiert die Einschätzung, die EU könnte dieses Jahr eine Strafzahlung von einer Milliarde Dollar über X verhängen. Weitere Maßnahmen sind im Gespräch: Weshalb müssen die sozialen Plattformen eigentlich keine Steuern zahlen auf die Einnahmen, die sie in Europa aus der Werbung generieren? Und wie genau lenken sie die Aufmerksamkeit der User in politischen Fragen?
Die Regulierung der sozialen Netzwerke ist das Herzstück in der politischen Kritik von Vance an den europäischen Verbündeten. Bei Trumps Wahl haben die sozialen Medien eine entscheidende Rolle gespielt. Trump wiederum verschafft sich gerade mit aller Entschiedenheit Zugang zum internationalen Club der Autokraten und Diktatoren: Er möchte nicht, dass die USA eine Demokratie bleiben. Und nun sollen die amerikanischen sozialen Medien auch in Europa die demokratische Mitte untergraben.
Als Eigentümer von X hat Elon Musk Trump viele Wähler zugeführt. Über 190 Millionen User abonnierten seine Posts auf X während des Wahlkampfs, und als Eigentümer beeinflusst Musk, welcher Post seltener, welcher häufiger zu sehen ist; welche Posts tendenziell durch kritische Anmerkungen relativiert werden und welche nicht. Musks eigene KI-Plattform "Grok" hat festgestellt, dass wahrscheinlich niemand auf X mehr irreführende Informationen verbreitet als Musk. Dort leugnet er den Holocaust und wirbt für rechtsextreme Verschwörungstheorien wie die "replacement theory."
Zugleich gaukelt Musk der Öffentlichkeit vor, es gehe ihm bloß um konsequente, demokratische Redefreiheit. Für ihn selbst, versteht sich – für andere nicht: Denn unliebsame Posts drosselt er in der Reichweite. Musk folgt seinem ehemaligen Geschäftsfreund, dem Milliardär Peter Thiel: Der hat erklärt, dass sich Freiheit und Demokratie nicht vertragen. Freiheit versteht er radikal und nur als seine eigene Freiheit, nicht die der anderen. Und hier schließt sich der Kreis: Thiel ist der Finanzier und ein politischer Ziehvater von Vance.
Auch Facebook selbst untergräbt die demokratische Kultur. Dort tummeln sich nicht nur allerlei antidemokratische Nutzerinnen und Nutzer mit Putins Bots. Letzte Woche haben die Facebook-Algorithmen (oder andere Prozeduren des "shadow banning") zum Beispiel dafür gesorgt, dass die Posts von Heather Cox Richardson ein paar Tage lang nicht angezeigt wurden. Die Historikerin postet täglich regierungskritische Texte, die etwa 3 Millionen Nutzer auf Facebook abonnieren. Auch ich konnte die Posts an den entsprechenden Tagen nicht auffinden. Und für mich hat Facebook neulich automatisch, ohne mein Zutun, einen der Kanäle Donald Trumps abonniert.
Mit Twitter und Facebook greift die autoritäre Propaganda auch auf Europa über, und das nicht erst seit heute. In Rumänien griff TikTok in die Präsidentschaftswahl ein: Auf der Plattform verbreiteten über 27.000 Fake-Accounts Falschinformationen zugunsten des prorussischen, scharf rechten Kandidaten – sodass ein Gericht entschied, die Wahl müsse wiederholt werden. Unterdessen versucht Musk aktiv, der AfD an die Macht zu verhelfen und die britische Labour-Regierung zu destabilisieren. Anne Applebaum hat in ihrem jüngsten Buch deutlich dargestellt, wie Russland und China mit Onlinevideos und Fernsehshows aktiv die Werbetrommel für ihre diktatorischen Regimes rühren. Nun betreten die USA den Club der Autokraten und Diktatoren, und Europa muss sich gegen Destabilisierungsversuche wehren, die nicht mehr nur aus Russland und China stammen, sondern mit neuer Wucht auch aus den USA.
Ausblick
Die Redefreiheit schafft sich selbst ab, wenn demokratische Gesellschaften sie nicht regulieren. Darauf muss Deutschland im Inneren gegen die Feinde der Demokratie beharren, auch wenn hier und dort tatsächlich Selbstkritik angezeigt ist. Im ideologischen Übergriff der USA muss Europa zusammenstehen und resolut am Gesetz zu digitalen Diensten festhalten. Mehr noch: Weshalb sollen wir X, Facebook und Co überhaupt zugestehen, dass intransparente Algorithmen bestimmen, wer wann was sehen darf? Aufgrund ihrer Transparenz sind etwa BlueSky und Mastodon für überzeugte Demokraten besser geeignet. Ich rate deshalb: Legen Sie sich ein Konto bei einer anderen Plattform an, die transparenter agiert als X, Facebook und TikTok.
Meinen X-Account habe ich abgeschaltet. Ich werde zwar mittelfristig noch nicht auf Facebook verzichten, aber ich ärgere mich, dass meine Aktivitäten dort den Antidemokraten unversteuerte Werbeeinnahmen in die Kassen spülen und indirekt zur Legitimierung der Plattform beitragen. Wer nicht auf die eigenen Kontakte in den autoritären Netzwerken verzichten möchte, fährt am besten erst einmal zweigleisig und postet nicht nur bei Zuckerberg und Musk, sondern zugleich auch bei einer demokratischen Alternativplattform. Sobald sich dort ein ansprechendes Netzwerk gebildet hat, kann man Trumps Busenfreunden hoffentlich leichteren Herzens den Rücken kehren.