Berlin (epd). Polizei und Experten warnen nach den Ausschreitungen am Reichstagsgebäude in Berlin vor einer Radikalisierung von rechts. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, appellierte an die Mehrheit der Demonstranten, sich von Rassisten und Antisemiten zu distanzieren. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) forderte einen Sachverständigenrat zum Schutz der Demokratie.
Zentralrats-Präsident Schuster erklärte, in der Corona-Debatte würden "Verschwörungsmythen mit antisemitischer Grundtendenz bewusst geschürt". Er sagte der "Bild"-Zeitung (Dienstag), dafür seien unter anderen "sehr rechte und rechtsextreme Gruppen" verantwortlich, die sich unter die Demonstranten gemischt hätten. Den Menschen müsse klar sein, "dass sie die Argumente von Antisemiten indirekt unterstützen, wenn sie sich an solchen Demonstrationen beteiligen." Die Bilder von rechten Demonstranten auf der Treppe zum Reichstagsgebäude nannte er "erschreckend und empörend".
Am Samstag hatten Demonstranten am Rande einer Großdemonstration gegen die Corona-Politik Absperrungen zum Bundestag in Berlin durchbrochen, die Treppen erstürmt und teilweise Reichsflaggen geschwenkt. Die Szenerie wurde parteiübergreifend scharf verurteilt.
Familienministerin Giffey will sich im Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus für mehr Prävention einsetzen. Aus den Ereignissen am Wochenende müsse man Konsequenzen ableiten, sagte sie am Dienstag in Berlin, auch für die Prävention. Konkret schlug sie einen "Sachverständigenrat für eine lebendige Demokratie" vor, der Strategien im Umgang mit extremistischen Tendenzen entwickeln soll.
Der Extremismusforscher Alexander Häusler sprach von einer besorgniserregenden Mischung verschiedener Strömungen und einer deutlichen Radikalisierung nach rechts. In Berlin sei nicht nur eine fehlende Distanzierung von Rechtsextremen zu beobachten gewesen, sondern eine zunehmende Übernahme von Verschwörungsanschauungen, offene Ablehnung des demokratischen Systems und der Wunsch, dagegen einen Volksaufstand inszenieren zu wollen, sagte der Wissenschaftler vom Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus der Hochschule Düsseldorf im WDR5-"Morgenecho".
Der Esoterik-Experte Kai Funkschmidt erklärte mit Blick auf die Vielfalt der Teilnehmer der Anti-Corona-Demo: "Es gibt immer mehr Themen, bei denen sich linkes und rechtes Spektrum verbinden. Da sieht man neue Gemeinsamkeiten, die sich nicht in einfache politische Kategorien fassen lassen", sagte Funkschmidt, der als Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin arbeitet, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Esoteriker, Impfgegner und ein Teil des grün-bürgerlichen Mileus teilten zudem ihre Skepsis gegenüber Institutionen und Großindustrien, etwa der Pharmaindustrie. Es sei wichtig, mit ihnen im Gespräch zu bleiben, sagte der Theologe. "Wenn diese Menschen als 'Covidioten' gebrandmarkt werden, ist kein Gespräch, keine Überzeugung mehr möglich."
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) rechnet nach den Ausschreitungen in Berlin indes mit einer Radikalisierung der gesamten Protestbewegung gegen die Corona-Politik. "Seit den ersten Hygiene-Demonstrationen verfestigt sich der Einfluss rechtsextremer Gruppen auf die Corona-Protestbewegung", sagte der GdP-Vizevorsitzende Jörg Radek den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). "Die Rechten sind dabei, die Bewegung komplett zu kapern."
Seit dem vergangenen Wochenende habe die Corona-Protestbewegung ihre Unschuld endgültig verloren, erklärte Radek. "Jetzt kann niemand mehr sagen, er sei nur ein Mitläufer." Jeder, der jetzt noch dabei bleibe, müsse sich die Frage stellen, ob er sich mit den Rechtsextremisten gemein machen und seine persönlichen Sorgen in der Corona-Krise mit den demokratiefeindlichen Zielen der Extremisten verbinden wolle.
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