Angenehm geschützt sitzt man am Rand des umzäunten Kräutergartens auf der Klosterinsel Reichenau. Um den Hortulus breitet sich ein weitläufiges Wiesenareal aus, begrenzt vom Münster mit seinen unterschiedlichen Baukörpern. "Wirkt der gotische Chor nicht wie ein schreiender Gegensatz zum romanischen Kirchenschiff?", fragt Ingrid Günther, gelernte Gärtnerin und Guide auf der Klosterinsel Reichenau. Die ältesten Teile des Münsters wurden bereits 816 geweiht.
Wer den Garten besucht, erfährt zugleich das Wichtigste über die Insel: Gegründet wurde das Kloster im Jahr 724 von Wanderbischof Pirmin und es entwickelte sich rasch. Es war ein Benediktinerkloster, also ein Konvent, wie Günther erklärt: "Das abgeschlossene Kirchenareal umfasste immer auch Obst-, Gemüse- und einen Kräutergarten." Wobei die Insel Reichenau tatsächlich komplett als Kloster galt, als heilige Erde - der Galgen stand am Gnadenseeufer gegenüber, in Allensbach. Die heutige Mauer wurde erst im 15. Jahrhundert gebaut, lange nach der Blütezeit des Klosters.
Der Kräutergarten war klein, aber essenziell. Im berühmten Sankt Galler Klosterplan, der um 827 auf der Reichenau gezeichnet wurde, findet er sich neben dem Haus des Arztes mit der Apotheke, nahe beim Krankenhaus. Auf der Reichenau wurde allerdings nicht nur entworfen, sondern auch dupliziert: "Die Reichenau war der Copyshop des Mittelalters", sagt Günther. Die Mönche schrieben und zeichneten wertvollste Bücher für die Höfe Europas, die meisten auf Bestellung.
Walahfrid Strabo war einer der bedeutendsten Dichtermönche des Mittelalters: Zwischen 830 und 840 schuf er das Lehrgedicht "De cultura hortorum", kurz Hortulus, also Gärtlein, genannt. Es war die erste Kunde vom Gartenbau in Deutschland. Schon als junger Kaplan war Strabo Erzieher Karls des Kahlen gewesen, 842 wurde er zum Abt des Klosters Reichenau berufen. Dennoch scheute er sich nicht, im Garten mit anzupacken, zu harken oder Mist auszubringen: "Ohne der Hände Arbeit kann nichts gedeihen", fasst es Günther zusammen. Über jede einzelne Pflanze und ihre Wirkungsweise schrieb er kurze Abhandlungen.
Das war nicht ausschließlich die Heilkunst: Der Muskateller-Salbei, der im Juni seine Blüten in langen lila Rispen entfaltet, wurde beispielsweise zum Verfeinern des Weines verwandt. "Die Blätter wurden mit gekeltert", weiß Günther, "um den Muskatellergeschmack zu erreichen". Denn Muskateller-Trauben wuchsen nicht auf der Reichenau, wo man zu Klosterzeiten auf 200 Hektar Wein anbaute. Heute sind es etwa 22 Hektar. Und noch heute wird beim Münster gekeltert, Wand an Wand mit der Mesmerei. Inzwischen übrigens auch Muskateller.
"Leuchten blühet Salbei ganz vorne am Eingang des Gartens, süß von Geruch, voll wirkender Kräfte und heilsam zu trinken", heißt es bei Walahfrid zum Garten-Salbei. Der wächst aktuell an anderer Stelle, denn der Fruchtwechsel sei notwendig für die Böden, sagt Günther. Die Anordnung und Größe der Beete entspricht jedoch dem Original: 1991 wurde der Garten in alten Maßen neu angelegt.
Wertvolle Zierpflanzen
Als wertvoll galten auch Zierpflanzen wie Rosen: "Im Mittelalter wurden sie vor den Hospitälern gepflanzt, um den Kranken neue Energie zu geben", berichtet Günther. "Die Rose ist ein Sinnbild für Blut, und wer viel Blut hat, hat viel Kraft. Die Lilie steht wiederum für die Reinheit."
Es gab Zier-und Färbepflanzen, Würz- und Heilpflanzen und weitere mit speziellen Aufgaben: Die Wurzel der Deutschen Schwertlilie, bis heute wegen ihres Duftes irreführend als "Veilchenwurzel" im Bio-Handel, diente als Beißring für zahnende Kinder. Wirksam war sie durch den hohen Stärkegehalt des Rhizoms, den Strabo als nützlich zur Behandlung von Weißwäsche beschrieb.
Wermut ist im Magenbitter gebräuchlich, Fencheltee hilft gegen Blähungen. Die Schafgarbe wird wegen ihrer filigranen, sanft geschwungenen Blätter auch "Augenbraue der Venus" genannt und wirkt blutstillend. "Der Kräutergarten war die Trickkiste des Mittelalters", sagt Günther.
Last but not least pflegten die Gläubigen auch Symbolpflanzen, die der Abwehr des Bösen dienten. Im Hortulus des Walahfrid Strabo zeigt Günther die gelb blühende Weinraute. Wer genau hinsieht, kann darin die feine Kreuzblume erkennen, die auch in die Baukunst Eingang fand. Doppelt verankert hilft bekanntlich auch doppelt.