Das Coronavirus fordert die Gesellschaft heraus, Urlauber und Menschen asiatischer Herkunft wurden zu Beginn der Epidemie stigmatisiert. Warum werden Sündenböcke gesucht?
Traugott Schächtele: Wir Menschen denken gerne im Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Das bedeutet: Wenn wir verunsichert sind oder wenn wir uns bedroht fühlen, muss das nicht nur eine abstrakte Ursache haben, sondern auch einen als Person erkennbaren Verursacher. Je klarer wir also den Schuldigen benennen können, desto schneller stellt sich wieder Normalität ein.
Wir können auch das biblische Bild vom Sündenbock direkt aufgreifen. Wir laden unsere Ängste einer anderen Gruppe auf, um sie selber loszuwerden. Und meistens trifft das eine Gruppe an den Rändern der Gesellschaft, Menschen, die uns ohnedies verdächtig sind. Zur Zeit des Nationalsozialismus waren das die Juden. Oft sind es dann die Fremden, die, die anders leben, die Geflüchteten. Der Sündenbockmechanismus löst keine Probleme, aber wirkt subjektiv entlastend. Gerade deshalb ist er so beliebt und gefährlich!
Warum boomen in der Krise Verschwörungstheorien?
Schächtele: Mit den Verschwörungstheorien verhält es sich ganz ähnlich wie beim Sündenbockmechanismus, sie verleihen dem Undurchschaubaren einen Sinn. Im Extremfall wird sogar Gott selber zum Urheber erklärt, der Menschen für ihr Fehlverhalten straft. Menschen, die so argumentieren, halte ich entgegen, dass es mit meinem Gottesbild nicht vereinbar ist, dass Gott die Menschen mit drastischen Strafen zur Umkehr bringt.
Manche Menschen erinnern an die schrecklichen Bilder der Offenbarung des Johannes, wo doch alles beschrieben sei, was sich derzeit abspielt. Hier wird der Sinn der Apokalypse auf den Kopf gestellt. Die Apokalypse ist ein Buch, das Menschen, die unter römischer Schreckensherrschaft leben, tröstet. Es ist kein Buch der Ankündigung einer schrecklichen Zukunft.
Menschen haben Angst und reagieren mit Hamsterkäufen. Wie können wir jetzt gelassen bleiben?
Schächtele: Hamsterkäufe sind eine Reaktion der Hilflosigkeit. Für mich heißt sinnvolle Vorsorge zum einen, daran mitzuwirken, dass die Verbreitung des Coronavirus in ihrer Geschwindigkeit möglichst gehemmt wird, weil sonst die Krankenhäuser und Ärzte überfordert werden. Hier haben wir auch als Kirche eine Mitverantwortung, weil unsere Arbeitsweise darauf aufbaut, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen.
Aus der Perspektive des christlichen Glaubens heraus weiß ich aber auch, dass unser Leben immer gefährdet und zerbrechlich ist. Auf der anderen Seite verhilft mir mein Glauben auch zu einer nüchternen Gelassenheit. Es gibt keinen Plan Gottes, dem Leben auf dieser Welt ein Ende zu machen.
Mein Glauben schützt mich also auch nicht einfach vor dem Coronavirus, aber er lässt mich diese Krankheit auch in ihrer rechten Dimension erkennen - weil er mir dankbar in Erinnerung ruft, wie bewahrt wir immer noch leben: Viele Mensche leiden an anderen und meist viel schlimmeren Krankheiten. Weltweit sterben durch Kriege und dürrebedingten Hunger als Folge des Klimawandels jeden Tag viel mehr Menschen.