"Digitalisierung ist zuerst ein gesellschaftliches Thema"

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"Eine Person oder Organisation hat immer auch ein digitales Abbild hat. Dieser digitale Zwilling kann die Realität steuern. Bei einem Pfarrer wäre ein Teil des Abbilds zum Beispiel sein Kalender."
"Digitalisierung ist zuerst ein gesellschaftliches Thema"
Er ist einer der wichtigsten Digitalisierungsexperten in Baden-Württemberg: Professor Heiner Lasi leitet das Ferdinand-Steinbeis-Institut in Stuttgart, das unter anderem mittelständische Unternehmen bei der Einführung digitaler Lösungen unterstützt. Ehrenamtlich ist er evangelischer Kirchengemeinderat in Weil im Schönbuch bei Böblingen. Lasi glaubt, dass Digitalisierung auch in der Kirche gegen Verschwendung helfen kann - und dass Datenschutzbedenken manchmal vorgeschoben sind.

Herr Professor Lasi, macht es eigentlich Spaß, sich hauptberuflich mit einem technischen Thema wie der Digitalisierung zu beschäftigen?

Heiner Lasi: Für uns bei der Steinbeis-Stiftung ist Digitalisierung kein technisches, sondern zuerst ein gesellschaftliches Thema. Aus der Gesellschaft heraus stellen wir die Frage: Wie kann ein Nutzen entstehen? Digitalisierung kann beispielsweise älteren Menschen ermöglichen, länger in ihrer eigenen Wohnung zu leben. Auch der Umgang mit Ressourcen kann durch Digitalisierung deutlich effektiver werden, etwa bei der Wasserversorgung - wie kann sie effizienter werden, wie können wir mit weniger Chemie eine bessere Wasserqualität sichern? Die Umsetzung wird nachher mit Technologie realisiert, aber am Anfang stehen ganz andere Fragen.

Sie sind Digitalisierungsexperte und kennen gleichzeitig als Kirchengemeinderat die Kirche von innen. Wo sehen Sie bei der Kirche den dringendsten Handlungsbedarf?

Lasi: Durch Digitalisierung können wir Verschwendung vermeiden, von der es in den kirchlichen Strukturen noch zu viel gibt: im Blick auf Zeit, Umsetzung von Maßnahmen oder im Umgang mit ehrenamtlichen Mitarbeitern.

Was könnte hier besser werden?

Lasi: Dazu muss ich vielleicht unser Denken erklären. Das sieht so aus, dass eine Person oder Organisation immer auch ein digitales Abbild hat. Dieser digitale Zwilling kann die Realität steuern. Bei einem Pfarrer wäre ein Teil des Abbilds zum Beispiel sein Kalender. Und wenn Sie sich anschauen, wie kompliziert es ist, etwa einen Termin für ein Gemeindefest zu finden, dann verstehen Sie, was Digitalisierung leisten kann.

Das heißt konkret?

Lasi: Ein elektronisches System könnte alle relevanten Kalender aller Betroffenen zusammenlegen - des Pfarrers, der ehrenamtlichen Mitarbeiter, der örtlichen Schule, der Vereine, auch der Fußball-Champions-League. Bislang läuft es ja so, dass in einer Sitzung jeder seinen persönlichen Kalender herausholt, eine Lücke gesucht wird, und wenn man dann einen Termin festgelegt hat, stellt sich am nächsten Tag heraus, dass man doch etwas übersehen hat. Mit einem Tool ließe sich ein geeigneter Termin sehr viel leichter und schneller finden. Wichtig ist das auch für Veranstaltungen, bei denen man Menschen erreichen möchte, die nicht zur Kirche gehen - denn auch deren terminliche Interessen müssen ja berücksichtigt werden. Wir erproben so etwas im Moment in einer Stuttgarter Gemeinde mit einem Prototyp.

Wo könnte die Digitalisierung den Kirchen noch nutzen?

Lasi: In vielen Supermärkten gibt es inzwischen im Kassenbereich Werbeflächen auf Monitoren mit wechselnden Inhalten. Warum sollte man nicht dort am Samstagnachmittag zum Gottesdienst am Sonntagvormittag einladen? Auch beim Einsatz von Ehrenamtlichen sehe ich Chancen. Das virtuelle Abbild kann ja auch für einen ehrenamtlichen Mitarbeiter bestehen, der freiwillig angibt, was er gut kann und wann er Zeit hat. Damit ließe sich mit einem Klick feststellen, ob jemand kurzfristig für das Mähen des Kirchenrasens oder das Austragen des Gemeindebriefs zur Verfügung steht.

Stichwort Datenschutz: WhatsApp ist in der kirchlichen Arbeit offiziell nicht erlaubt. Außerdem wird von der EKD darauf hingewiesen, dass sich Fanpages bei Facebook kaum rechtssicher betreiben lassen. Ist die Kirche hier übervorsichtig?

Lasi: Ich habe den Eindruck, wir verhalten uns hier etwas schizophren. An einigen Punkten problematisieren wir zu viel. Wenn jeder in einer kirchlichen Gruppe privat WhatsApp nutzt, dann spricht wirklich nichts dagegen, das auch für die kirchliche Arbeit zu tun. Vielleicht ist der Datenschutz auch an der einen oder anderen Stelle nur ein akzeptierter Vorwand, und eigentlich wollen wir Hierarchie und überkommene Strukturen schützen. Das eigentliche Motiv ist nach meinem Gefühl vielfach Kontrollverlust. Hier sollten wir uns selbst kritisch prüfen.

"In anderen Ländern funktioniert das alles schon hervorragend, aber der Deutsche befürchtet, dabei überwacht zu werden"

Digitalisierung ist teuer. Reichen die Budgets der Kirchen dafür überhaupt aus?

Lasi: Ich sehe das anders: Digitalisierung ist sehr günstig. Ein Beispiel: Ich könnte heute einen Wetterdienst einrichten, der praktisch von jedem Ort präzise Daten zu aktueller Temperatur und Niederschlag liefert. Die Sensoren dafür sind längst unterwegs, nämlich eingebaut in Autos. Jetzt müssten diese Daten nur noch an eine zentrale Stelle weitergeleitet werden. Bei uns scheitert so etwas an unserer Mentalität ("meine Daten"), aber hier könnte ein sehr hochwertiges Angebot mit geringsten Kosten geschaffen werden. Wir brauchen also viel mehr offene Technologie, offene Standards und die Nutzung bestehender Infrastruktur.

Das ist ein faszinierendes Beispiel. Haben Sie noch eines?

Lasi: Ja. Gefriertruhen in Deutschland werden bislang ausschließlich über das Thermostat gesteuert. Wenn wir aber eine große Anzahl an Gefriertruhen im Land zusammenfassen, dann haben wir einen gigantischen Energiespeicher. Nun könnte ich meinem Stromversorger die Steuerung überlassen. Er entscheidet dann, wann er weiter herunterkühlt und wann er weniger Kühlung gibt, alles natürlich in einem für den Inhalt der Truhe verträglichen Rahmen. Der Nutzen wäre unglaublich.

Warum?

Lasi: Wir könnten mehrere Kraftwerke sofort abschalten und die Energiewende schneller schaffen. Wenn mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen zur Verfügung steht, könnten die Energieversorger weiter herunterkühlen. Wenn der Strom knapp und teuer wird, könnte man die Kühlleistung drosseln. Das ließe sich durch digitale Systeme mit verfügbaren Technologien sehr präzise steuern. Das würde auch im Blick auf erneuerbare Energien helfen, an einem sonnigen Tag könnte man stärker herunterkühlen als einem wolkigen. In anderen Ländern funktioniert das alles schon hervorragend, aber der Deutsche befürchtet, dabei überwacht zu werden.

Sehen Sie auch Nachteile der Digitalisierung?

Lasi: Ja. Sie stellt viele Werte infrage, die Christen wichtig sind. Zum Beispiel Vertrauen. Mit der sogenannten Blockchain soll erreicht werden, das Menschen, die einander nicht kennen und keinerlei Vertrauen haben, im Internet miteinander sicher Geschäfte abwickeln. Die Kirche steht aber für etwas anderes, nämlich auch für menschliches Vertrauen. Ich befürchte, in der Gesellschaft könnte sich der Glaube durchsetzen, dass sich Vertrauen durch Technologie ersetzen lässt. Mit biblischen Werten hätte das natürlich nichts mehr zu tun.

Das ist eine sehr kritische Einschätzung?

Lasi: Man könnte sogar noch weiter gehen und fragen: Sind Blockchain und die sogenannte Künstliche Intelligenz nicht der Versuch, den Sündenfall rückgängig zu machen? Es gibt die Tendenz, die Verantwortung, die Gott uns gegeben hat, auf Computersysteme abzuwälzen. Entscheidungen trifft dann das System, nicht mehr der Mensch.

Entmündigen wir uns damit selbst?

Lasi: Das weiß ich nicht. Aber wir treffen weniger Entscheidungen und übernehmen weniger Verantwortung. Wenn die Verantwortung bei der Künstlichen Intelligenz liegt, wofür benötige ich dann noch Vergebung? Ich denke, hier stellen sich zentrale Fragen zum Menschen- und zum Gottesbild. Ein Beispiel, das dieses Spannungsfeld aufzeigt: In der Medizin gibt es tolle neue Verfahren, die sicherlich große Fortschritte bringen und für die ich sehr dankbar bin. Damit stellt sich jedoch zunehmend auch die Frage, wer die Verantwortung für einen kranken Mitmenschen übernimmt - ein Algorithmus oder ein Mensch? Solche Themen müssten viel häufiger aus biblischer Perspektive in Kirchengemeinden diskutiert werden.