"Zwei Drittel unserer Dienste schreiben rote Zahlen", sagte der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Dienstgeberverbandes Niedersachsen (DDN), Rüdiger Becker, in Hannover. Die Vergütungen, die die niedersächsischen Pflegekassen für die Leistungen ambulanter Dienste zahlten, seien "völlig realitätsfern". Nur Dienste, die ihre Mitarbeiter deutlich schlechter als nach Tarif bezahlten, könnten unter diesen Bedingungen wirtschaftlich überleben. Der Verband der Ersatzkassen wies die Vorwürfe zurück.
Auch Sozialministerin Carola Reimann (SPD) appellierte an die Kassen, für eine angemessene Bezahlung zu sorgen. Die Kassen müssten ihrer Verantwortung für eine gute pflegerische Versorgung und Infrastruktur in Niedersachsen gerecht werden und endlich Tariflöhne refinanzieren, sagte Reimann in Hannover. Auch die zum Teil langen Anfahrtswege auf dem Land müssten angemessen bezahlt werden: "Ein Sparkurs auf dem Rücken der Pflegekräfte ist verantwortungslos!"
Schlusslicht in der Pflege
Becker betonte, lediglich 15 Prozent der ambulanten Pflegedienste in Niedersachsen arbeiteten mit einem Tarifvertrag für ihre Beschäftigten. Dazu zählten die Dienste der DDN und der AWO. Zur Refinanzierung der Tarifverträge durch die Kassen stehen am Donnerstag (21. März) und Anfang April Schiedsgerichttermine mit Vertretern der Kostenträger und der Leistungserbringer an. Würden die Zahlungen an die Dienste nicht erhöht, müssten sich die tarifgebundenen Anbieter aus der ambulanten Pflege in Niedersachsen zurückziehen. Niedersachsenweit werden der DDN zufolge rund 16.000 Patienten von gut 5.000 Pflegefachkräften ambulant versorgt.
Der Verband der Ersatzkassen in Niedersachsen (vdek) bezeichnete die Forderung der Wohlfahrtsverbände auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) als "unrealistisch". Er warf Diakonie und AWO vor, "mit den Ängsten der Menschen zu spielen, um eigene finanzielle Interessen durchzusetzen". Allein zwischen 2013 und 2018 seien ihre Zuweisungen laut vdek um 14,3 Prozent gestiegen. Dabei sei die Tarifentwicklung ausdrücklich berücksichtigt worden. Ein Ausstiegsszenario aufgrund der Preisentwicklung sei daher nicht nachvollziehbar.
Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes AWO Deutschland, Rifat Fersahoglu-Weber, sagte, Niedersachsen sei unter den alten Bundesländern Schlusslicht in der Vergütung der Pflege. Die Pflegekassen seien in diesem Bundesland "besonders hartleibig". In anderen Bundesländern funktioniere die Kooperation deutlich besser. Gerade die Pflegedienste, die sich ihren Mitarbeitern gegenüber bei der Bezahlung anständig verhielten, stünden durch dieses Verhalten vor dem Aus. "Wir haben alles optimiert, jeden Handgriff, jeden Tourplan", sagte er. "Da geht nichts mehr."
Unterstützung erhielten AWO und Diakonie vom Bundesverband der privaten Pflegeanbieter (bpa). Der Leiter der niedersächsischen Landesgeschäftsstelle, Henning Steinhoff, forderte ein "Machtwort" der Sozialministerin. Die Blockade- und Hinhaltepolitik der Kassen verschlechterten die Lage der Versicherten. In den neuen Bundesländern sei das Thema vom Tisch. Dort zahlten die Kassen die Tarife und die Fahrkosten adäquat.
Die Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen, Sandra Mehmecke, forderte die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung: "Hierfür ist die vollständige Refinanzierung von Kosten - ganz besonders von Tariflöhnen - unentbehrlich. Qualitativ hochwertige pflegerische Leistungen gibt es nicht zum Spartarif."
Der Sprecher der Gewerkschaft ver.di, Matthias Büschking, sagte, es sei unverständlich, warum die 2015 geschlossenen Vereinbarungen nicht umgesetzt werden. Das Sozialministerium habe das Papier damals mit unterzeichnet und müsse nun für die Umsetzung sorgen. Der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände, Franz Loth, verwies auf die prekären Lagen etlicher Pflegedienste. Die Möglichkeiten die Defizite mit Eigenmittel auszugleichen seien größtenteils erschöpft. Die Lösung liege in der Akzeptanz der transparenten Kostenkalkulation durch die Kassen.