Der tiefe, gleichmäßige Klang lässt die Menschen in Hannovers Innenstadt aufhorchen. Es ist kurz vor zwölf als die evangelische Marktkirche ihre große Trauerglocke anschlägt. Vermutlich in der Nacht ist ein Obdachloser im Schatten dieser Kirche gestorben. "Wir haben ihn im Blick gehabt, aber wir haben ihn nicht erreicht", sagt Pastorin Hanna Kreisel-Liebermann mit gesenkter Stimme. In einer spontanen Trauerandacht erinnert sie an den Unbekannten, der in der Nähe des barrierefreien Nebenportals der Kirche sein Lager aufgeschlagen hatte.
Die gesamte Gemeinde sei tief erschüttert, sagt die Pastorin. Woran der Mann gestorben ist, sei zurzeit noch unklar. Die Polizei habe Ermittlungen aufgenommen. Gewalteinwirkung durch Fremde als Todesursache könne allerdings ausgeschlossen werden. "Es ist einfach schrecklich, dass ein Mensch in Deutschland auf der Straße sterben muss", sagt Kreisel-Liebermann.
Hilfe abgelehnt
Der ältere Mann habe bereits seit mehreren Tagen in der Nähe des Nebenportals campiert. Immer wieder hätten sie oder andere kirchliche Mitarbeiter ihm Hilfe angeboten, berichtet Kreisel-Liebermann. Als der Mann einmal nicht reagiert habe, hätten sie sogar den Notarzt gerufen. "Der hat dann aber festgestellt, dass der Mann sehr wohl ansprechbar war. Außerdem wollte er sich nicht von den Rettungskräften mitnehmen lassen", sagt die Pastorin. "In so einem Fall kann leider niemand gezwungen werden, Hilfe anzunehmen."
Zuletzt habe sie den Mann am 7. Februar gegen 17 Uhr angesprochen, sagt die Pastorin. Wegen des Regenwetters habe sie ihm angeboten, in die Kirche zu kommen: "Aber er hat sich nur abgewendet, wie schon so oft davor." Während der Andacht sind seine Habseligkeiten wie Isomatte, Schlafsack, Decken und Taschen bereits verschwunden. Nur noch eine im Wind flackernde Kerze neben der Kirche erinnert an den Namenlosen.
Aufarbeitung soll folgen
Zunächst wolle die Gemeinde den Tod verarbeiten, sagt die Pastorin. Dann aber wolle sie mit Sozialarbeitern und Initiativen das Gespräch suchen, wie zukünftig die Hilfe für Obdachlose im Bereich der Marktkirche noch verbessert werden kann. "Ein solcher Fall wird sich nie zu einhundert Prozent vermeiden lassen, aber vielleicht müssen wir einfach noch engmaschiger den Menschen beistehen", sagt Kreisel-Liebermann. Insbesondere, wenn wieder jemand direkt an der Kirche campiere, wolle sie für denjenigen ein Kontrollsystem schaffen.
Die Marktkirche hatte bereits Ende Januar bei winterlichen Temperaturen ihre Türen geöffnet und mehr als 60 Obdachlose aufgenommen. Sie konnten drei Tage lang in einem Saal unter der Kirche schlafen. Zahlreiche Ehrenamtliche begleiteten die Wohnungslosen, für die Decken und Schlafsäcke gestellt wurden. Auch umliegende Gastronomen hatten die Besucher versorgt. Die Kirche zu öffnen, könne nur eine Notlösung sein, sagte die Pastorin während der Aktion. Mittelfristig müsse es darum gehen, dass diese Menschen wieder eine Wohnung finden könnten.
Auch in anderen Städten waren Todesfälle im Freien zu beklagen. Im Januar war in Berlin ein Obdachloser bei Minusgraden gestorben. Der 55-jährige Mann wurde auf einer Parkbank tot aufgefunden. In Hamburg hatte breits Ende Oktober eine 43-jährige Obdachlose tot auf einer Parkbank gelegen. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind seit 1991 in Deutschland mehr als 300 Kältetote unter Wohnungslosen zu beklagen.