Ein nach Jahrzehnten entdeckter Fall von mutmaßlichem sexuellen Missbrauch erschüttert das katholische Bistum Hildesheim. Im Blickpunkt steht dabei erneut der frühere Bischof Heinrich Maria Janssen (1907-1988): Ein heute über 70-jähriger Mann habe sich beim Bistum gemeldet und angegeben, ab 1957 unter anderem von Janssen sexuell missbraucht worden zu sein, sagte der seit September amtierende Bischof Heiner Wilmer am Dienstag in Hildesheim.
"Es zerreißt mir das Herz angesichts dessen, was der Betroffene uns mitgeteilt hat. Die schrecklichen Verbrechen haben ihn für sein weiteres Leben schwer gezeichnet", sagte Wilmer. Er will unverzüglich externe Fachleute mit der Untersuchung des Falles beauftragen.
Bereits zweiter Missbrauchsvorwurf
Es ist bereits der zweite Missbrauchsvorwurf gegen den 1988 gestorbenen Bischof Janssen. Bereits vor drei Jahren hatte ein früherer Messdiener berichtet, Janssen habe sich von 1958 an über vier Jahre hinweg regelmäßig an ihm vergangen. Der Mann, der sich jetzt meldete, war ebenfalls Messdiener in Hildesheim. Er wurde laut Wilmer "sexuell gedemütigt".
Den Schilderungen zufolge soll Janssen den Jungen aufgefordert haben, sich nackt vor ihm auszuziehen. Der Bischof habe ihn anschließend mit den Worten weggeschickt, er könne ihn nicht gebrauchen. Zum Bischof gebracht und wieder abgeholt wurde der Betroffene nach eigenen Angaben durch den Leiter des damaligen Hildesheimer Kinderheims "Bernwardshof", einen Priester.
Schilderungen glaubhaft
Auch diesen Priester sowie einen Kaplan am damaligen Kinderheim "Johannishof" nannte der Mann als Missbrauchstäter. Beide beschuldigten Geistlichen sind dem Bistum bereits als mutmaßliche Täter bekannt. Sie sind inzwischen tot. Der Betroffene gab zudem an, dass er von jugendlichen Mitbewohnern in Kinderheimen sexuell missbraucht worden sei.
"Wir halten die Schilderungen für glaubhaft", sagte die ehrenamtliche Leiterin des Bischöflichen Beraterstabs in Fragen sexualisierter Gewalt, die frühere Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne). Der Mann hatte sich im Oktober beim Bistum gemeldet, nachdem Bischof Wilmer Ende September ein öffentlich ein Gesprächsangebot für mögliche Missbrauchsopfer gemacht hatte. Am Sonntag kam es daraufhin zu einem persönlichen Gespräch mit zwei Experten für sexualisierte Gewalt und Bischof Wilmer.
Aufklärung und konsequentes Handeln
Der seinerzeit sehr populäre Bischof Janssen leitete das Bistum von 1957 bis 1982. Er war Ehrenbürger von Hildesheim und Kevelaer am Niederrhein und liegt in der Gruft des Hildesheimer Domes begraben. Janssen wurde mit dem Bundesverdienstkreuz sowie der Niedersächsischen Landesmedaille geehrt.
"Wir können nicht dazu schweigen, wenn ein Bischof als möglicher Missbrauchstäter genannt wird", sagte Wilmer. In einem solchen Fall sei "absolute Transparenz" geboten. "Sexualisierte Gewalt ist nicht einfach ein Vergehen, sondern ein Verbrechen", unterstrich der Bischof. "Sie verlangt Aufklärung und konsequentes Handeln." Es mache ihn wütend und tief traurig zugleich, was dem Mann offensichtlich durch Mitarbeitende der Kirche angetan worden sei. Zur Untersuchungsgruppe, die eingesetzt werden solle, könnten etwa Forensiker, Kriminologen und Historiker gehören.
Im Bistum Hildesheim leben rund 600.000 Katholiken. Laut einer kürzlich vorgestellten bundesweiten Studie waren dort in den vergangenen Jahrzehnten mindestens 153 Menschen Opfer von sexualisierter Gewalt. Beschuldigt sind der Erhebung zufolge 46 Priester, von denen zehn noch leben. Nach einer von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Studie sollen zwischen 1946 und 2014 insgesamt 1.670 katholische Kleriker 3.677 meist männliche Minderjährige sexuell missbraucht haben.