Weder Strukturen noch die Qualität kirchlicher Arbeit seien ausschlaggebend den Mitgliederschwund, schreibt der Direktor des evangelischen Theologischen Seminars in Herborn in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Montag). Vielmehr könne Gott in der Welt nicht mehr verlässlich durch Wort und Sakrament repräsentiert werden. Notwendig sei eine "Theologie der Krise", die den Sprachverlust in Glaubensfragen eingestehe und thematisiere, "wie sehr uns Gott fehlt".
Die Kirche habe ihre Rolle als sinngebendes "Buch Gottes" verloren, konstatiert Scherle. Natur- und Humanwissenschaften hätten die Funktion der Theologie übernommen, auch wenn sie aus dem "Buch der Natur" Sinn generierten. In der Folge seien die christlichen Kirche randständig geworden und erhielten Bedeutung nur dort, wo sie sich mit anderen gesellschaftlichen Interessen verbündeten. Am deutlichsten werde dies im Bündnis mit Nationalisten, etwa in Polen und Russland oder ehemals im deutschen Kaiserreich.
Hierzulande seien die Kirchen heute "vorrangig zu Wertelieferanten für die bürgerlichen Gesellschaft" geworden. Diese 'Ethisierung' sei immer dann gewollt, wenn sie die Verhältnisse festige, erklärt Scherle: "Kirche soll gesellschaftlich stabilisierend wirken, indem sie in Gottesdiensten und Ethikkommissionen die gesellschaftliche Unsicherheit reduziert. Nicht dass dies falsch oder unzulässig wäre. Aber als Wertelieferantin ist die Kirche ersetzbar." Diese Aufgabe könne gut auch von anderen übernommen werden.
Noch werde die Bedeutung der Kirche durch ihre Funktion als Wohlfahrtsträger und Wertelieferantin gestützt. Dass müsse aber nicht so bleiben, betont der Direktor des Ausbildungsseminars der hessen-nassauischen Landeskirche. In allen Bundestagsparteien gebe es Stimmen und Stimmungen, die die Kirchen in dieser Hinsicht für ersetzbar hielten. Die Arbeitsgerichte stellten die Kirchen zudem vor die Aufgabe, "ihre Grenzziehungen neu zu reflektieren".
Scherle prognostiziert den Kirchen einen grundlegenden Wandel. Dass dieser nicht nur als erzwungen und erlitten verstanden werde, sei die Herausforderung der nächsten Jahre, so Scherle. Es bedürfe einer "Theologie der Krise", die die Brüchigkeit der menschlichen Erkenntnis und der Gesellschaft reflektiere und den "Gottesentzug" eingestehe. "Anders werden wir den Gottesglauben nicht mehr zur Sprache bringen können."